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Der Volvo V40, Baujahr 1998. Und unser Autor, dem die Trennung immer schwerer fällt.

© Thilo Rückeis

Ich verkaufe mein Auto: Zustand egal

„Sofort Abholung“, „Zahle höchsten Preis“, „Bin an Auto interessiert“: Was passiert eigentlich, wenn man die Visitenkarten, die dem alten Volvo ständig in die Fensterritzen gesteckt werden, nicht einfach wegschmeißt? Sondern tatsächlich mal anruft? Ein Roadtrip in eine raue Szene.

Visitenkärtchenauto. Wer eins fährt, weiß sofort, was gemeint ist. Kaum ist es in eine Parklücke manövriert und kurz alleine gelassen, klemmt ihm schon eine Offerte in der Tür. Ich möchte Ihr Auto kaufen! So viel Aufmerksamkeit – und das in seinem Alter. Mit einem neuen BMW oder einem frisch lackierten Audi A6 passiert einem das nicht.

Visitenkärtchenautos können verbeult und verrostet sein, sie dürfen rumpeln und krächzen und müssen nicht einmal mehr selbstständig fahren. Altmetall auf Rädern. Motorschaden? Egal! Sie können aber auch in Würde gealtert sein, vor dem letzten Tüv durchrepariert und ohne Angst vor dem nächsten. Was alle Visitenkärtchenautos gemeinsam haben, ist ihr sicher höheres Alter und damit ihr vermutlich niedriger Preis.

Wir interessieren uns für Ihren Wagen, auch mit hoher Kilometerleistung, Unfall- und Motorschaden. Bundesweite Abholung!

Ankauf von Gebrauchtwagen aller Art. Ich kaufe laufend Occasion Autos ab Platz. Auch ungeprüft mit Schaden und vielen Km.

Wollen Sie ihr Auto verkaufen? Jetzt oder später? Dann rufen Sie mich bitte an, zu erreichen jederzeit – 24 St. (auch per SMS). Auch Unfallwagen, ohne Tüv/Kat, hohe Kilometerzahl.

Also gut. Anruf.

„Hallo. Ich hatte so eine Karte an meinem...“
„Ja, ja. Was für Auto?“
„Volvo V40.“
„Baujahr?“
„98.“
„Benzin oder Diesel?“
„Benziner.“
„Also 2.0?“
„1.6.“

Kurzes, aber betont unzufriedenes Schweigen.

„Was willst du haben?“
„Ich hatte so an 1200 Euro gedacht, aber...“
„Ja, ja. Jetzt sag mal echt.“
„Also wir können...“
„500.“
„Kommen Sie vorbei, dann können wir verhandeln.“

Eine halbe Stunde später steigen in Berlin-Kreuzberg zwei Männer aus einem neuen VW Passat. Einem davon ist selbst dieser Kombi zu klein, er zwängt seinen massigen Körper schwer atmend nach draußen. Statt Augenkontakt aufzunehmen, betrachtet er den Volvo, während er „Ja, ja, hallo, ich bin Mehmet“ murmelt. Das Unterhemd, die Statur und seine platte Nase qualifizieren Mehmet als Ex-Boxer. Auch seine Konversation ist Schlag auf Schlag. „Schlüssel!“ Mehmet versinkt im Fahrersitz und prüft eine halbe Ewigkeit, ob und wie die Lüftung funktioniert. Vielleicht ist das ja besonders wichtig, wenn der Volvo demnächst heißem afrikanischen Wüstenwind widerstehen muss. „Nix Afrika. Volvo ist nicht gut für Afrika. Ist nur für Ausschlachten“, sagt Mehmet. „Bist irgendwo gegengefahren“, sagt der zweite Mann, lächelt freundlich und rubbelt über eine Delle am Kofferraum. Mehmet steigt aus, läuft ums Auto, schüttelt unzufrieden den Kopf, klopft auf den Kratzer in Form eines W in der blauen Motorhaube. „Ist altes Auto. Wenn ich suchen würde Mängel, würde ich finden. Also suche ich gar nicht erst. 500.“ Mehmet geht keuchend zum Passat und holt einen vorgedruckten Kaufvertrag.

Ähhm. Der Preis gefällt mir nicht, meinen treuen Volvo als Organspender für andere Schrottkarren herzugeben ebenso wenig. Er hat mich durch halb Europa gebracht, den Staub der Landstraßen atmet er nun für immer aus seinen grauen Polyestersitzen. Da steigt der emotionale Wert schnell ins schwer Bezifferbare. Eigentlich will ich ihn auch nicht unbedingt verkaufen. Nur brauche ich den Volvo nicht wirklich, und der Unterhalt kostet viel Geld.

„Also, was jetzt?“

Hmm. So spontan kann ich mich nicht entscheiden, ich bin kein Ex-Boxer. „Wie jetzt, nicht sofort?“ Mehmet schüttelt den Kopf. „Tsss. Ruf an, wenn du willst verkaufen.“ Und weg sind sie.

Das Geschäft der Visitenkärtchen-Händler ist schwer zu überblicken, notdürftig reglementiert und kaum kontrolliert. Die Vorteile für alle, die ihr Auto auf diesem Weg loswerden, liegen auf der Hand: Es geht schnell, es gibt sofort Bargeld, und selbst schrottreife Fahrzeuge sind willkommen. Probefahrten sind in diesem Metier so selten wie Neuwagen. Der große Nachteil – neben den oft ruppigen Händlern – ist der oft sehr niedrige Preis.

Und dann ist da eben noch die Reise, auf die sich der oft hochemotional besetzte Alltagsgegenstand „Eigenes Auto“ begibt. Nach dem Kauf gibt es, grob gesagt, zwei Möglichkeiten: Das Auto wird als Ganzes nach Afrika oder Osteuropa verkauft – oder in Ersatzteile zerlegt, die in die gleichen Zielgebiete gehen, mitunter aber auch in Deutschland weiterverkauft werden. Verschwägert ist diese zumeist legal operierende Branche mit dem illegalen Handel mit Schrottautos, die dem Gesetz nach nur noch als Altmetall verwertet werden dürften. Doch dazu später mehr.

Guten Tag, entschuldigen Sie bitte, dass ich ohne Erlaubnis mein Angebot an ihr Auto angebracht habe, aber Sie ihr Auto jetzt oder später verkaufen möchten, rufen Sie mich bitte an.

So redselig geben sich die Kärtchen selten. Nur ein „wenn“ nach dem „aber“ fehlt. Vielleicht ist hier nicht mehr die Frage, ob jemand verkauft, sondern nur, ob jetzt oder später. Nun gut. Anruf.

„Hallo. Ich hatte Ihre Visitenkarte an meinem Volvo und würde ihn gerne verkaufen.“
„Welches Baujahr?“
„1998.“
„Das ist ein Kombi, ja?“
„Genau.“
„Schaltgetriebe oder Automatik?“
„Schaltung.“
„Preis?“
„Ich hatte so an 1200 gedacht...“
„Ahhh. Für einen Volvo? Das ist zu viel...“
„Kommen Sie doch vorbei, vielleicht kommen wir ja zusammen.“

Eine Stunde später ist Abdullah da. Er stellt sich freundlich vor, verlangt nicht sofort die Herausgabe des Schlüssels und checkt im Gegensatz zu Mehmet, ob das Auto noch Tüv hat. Hat es, bis Ende 2016. Das macht mir Hoffnung, der Volvo könnte in irgendeinem Land, das ich selbst vielleicht nie zu Gesicht kriege, ein zweites Leben beginnen. Vielleicht dreht jemand mal eine Auswanderer-Doku über ihn. Doch Abdullah muss mich enttäuschen. „Ich bin Zwischenhändler. Wahrscheinlich wird das Auto zerlegt und die Ersatzteile verkauft. Nach Afrika gehen vor allem Mercedes, VW, Toyota und Nissan.“ Ich frage, was ich tun müsste, damit der Volvo ganz bleibt. Er hat mir so treu gedient, versuche ich zu erklären. „Dann mach Abstriche beim Preis und finde einen Großhändler“, sagt Abdullah. Abstriche beim Preis, wo er schon so niedrig ist? „Geld ist nicht alles im Leben“, sagt Abdullah. Ich schließe auf.

Abdullah setzt sich ein Headset auf den Kopf und ins Auto, telefoniert mit seinem Chef und lässt den Motor laufen. Der macht Geräusche wie eine altersschwache Ziege. Aber eine, die zuletzt die Tatra erklommen hat – und noch den ein oder anderen Gipfel bezwingen möchte, wie ich immer herauszuhören glaube. Abdullah lächelt. „Ja... Das hört sich nicht gut an. Aber das weißt du ja.“

Sicher. Ich weiß einiges über meinen Volvo. Über seine metallisch scheppernde Kupplung und darüber, dass der erste Gang etwas schwer reingeht. Oder darüber, dass die Stoffverkleidung oben in der Fahrgastzelle sich schon vor langer Zeit weitgehend gelöst hat und wie ein Betthimmel ins Auto hängt. Könnte ich mal machen lassen. Abdullah hat mit seinem Chef verhandelt. „Nur 150 Euro“, sagt er und schüttelt seinen Kopf, wie um sicherzugehen, dass ich dieses unverschämt niedrige Angebot auch sicher ablehne. Tue ich auch. Abdullah wünscht einen schönen Tag.

Die nächsten Anrufe bringen kaum Überraschungen. Die Fragen sind stets die gleichen und die Händler kurz angebunden und selten so eloquent wie Abdullah. Der Visitenkärtchen-Autohandel ist hektisch und mobil, er ist international und in Deutschland selbst eine Branche mit Migrationshintergrund.

Früher gab es in Berlin noch Handelsplätze wie den legendären Beusselmarkt. Der Blech-Basar mit orientalischer Atmosphäre war dermaßen von schattigen Gestalten beherrscht, dass ich mich in einem Vorort von Bukarest und nicht in Tiergarten wähnte, als ein Autowunsch mich gemeinsam mit Freunden kurz nach der Jahrtausendwende dorthin getrieben hatte, obwohl wir alle noch gar nicht in Berlin lebten. Autos kauften wir an dem Tag keine. Dafür rissen wir viele Witze über Panzerfäuste und Leichen in Kofferräumen. Die Luft roch nach Motoröl und Falschgeld, die Autos gingen meistens nach Osteuropa. Die Polizei war ständig da, das Geschrei immer groß und die Deals selten sauber. Doch vergleichbare Märkte gibt es in Berlin nicht mehr. Der letzte schloss im September 2015 am Siemensdamm in Spandau.

Diese Entwicklung scheint logisch, hat sich doch die Rolle des Autos in der Gesellschaft stark gewandelt, zumindest gefühlt, und vor allem in den Metropolen. Früher war das eigene Auto noch das Statussymbol schlechthin, zum besten Kumpel verklärt und mit Kosenamen versehen, eine Ikone persönlicher Freiheit. Gar nicht erst zu reden von der Rolle des eigenen Wagens als Männlichkeitssymbol, als Aufreißer-Schlitten, als rollende Penis-Vergrößerung.

Doch seit „Go Trabi Go“ und „Manta, Manta“ sind neue Insignien der gelebten Individualität aufgekommen, haben iPhone und Macbook einen virtuellen Raum erschaffen, der nicht auf vier Rädern, sondern mit 4G-Breitband-Internet zu erforschen ist. Dieser virtuelle Raum macht nicht nur dem Auto als Statussymbol zu schaffen, er verändert auch den Autohandel. Denn dieser wandert seit Jahren immer stärker ins Internet ab. Preise lassen sich am heimischen Computer leichter vergleichen. So wie Amazon dem stationären Buchhandel zu schaffen macht, sorgen Autoscout24 und mobile.de dafür, dass Großmärkte zunehmend aus den Metropolen gedrängt werden.

In Großstädten wie Berlin macht nur etwa jeder fünfte, sobald es möglich ist, den Führerschein, schätzt die Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände. Früher hätten sich in Deutschland demnach 90 Prozent der Jugendlichen gleich zur Volljährigkeit ihre Fahrerlaubnis besorgt, heute werde diese Quote erst mit 24 Jahren erreicht. Dazu wollen immer mehr Menschen zwar ein Auto fahren, aber immer weniger eines besitzen. Aus einem Familienmitglied ist ein Nutzgegenstand geworden, der bei Bedarf geliehen wird wie eine Motorsäge aus dem Baumarkt. Das Autoland hat sein liebstes Spielzeug nicht mehr lieb. Und dann mogelt sich mit VW auch noch die wichtigste deutsche Marke durch Emissionstests.

Doch trotz dieser gefühlten und messbaren Veränderungen hat das Auto nicht ausgedient. Mehr als 40 Millionen Personenkraftwagen sind auf deutschen Straßen unterwegs, etwa eine halbe Million kommen pro Jahr nicht mehr durch den Tüv und fallen laut Umweltbundesamt „als Altfahrzeuge an“. Sie müssen also verschrottet werden.

Hier setzen manche schwarzen Schafe der Altmetall- und Gebrauchtwagen-Branche an, die Autos, statt sie sachgerecht zu entsorgen, beispielsweise in zwei Hälften zersägen, damit sie besser in Schiffscontainer passen, und sie dann nach Westafrika und Osteuropa verkaufen. Wo sie wieder zusammengebaut und auf die Straße geschickt werden. Das ZDF-Magazin „Frontal 21“ hat im Frühjahr 2015 den Detektiv Tamer Bakiner auf den Spuren einer deutsch-georgischen Bande begleitet. Mit Peilsender im Auto und versteckter Kamera wird in dem Beitrag gezeigt, wie die vorderen Fahrzeug-Hälften in Deutschland mit Elektrosägen brachial abgeschnitten werden. Im georgischen Tiflis angekommen, schweißt ein Mechaniker sie mit baugleichen Hinterteilen von Unfallautos zusammen. Deutsche Autohändler behalten die Hinterteile mit der Fahrgestellnummer und täuschen so eine gesetzlich saubere Komplettverwertung vor. Bis zu 16 Vorderteile passen in einen Schiffscontainer. 20 000 Euro Gewinn sind pro Container drin. Ein Riesengeschäft.

Das sind die kriminellen Extrem-Auswüchse einer Branche, die ohnehin nicht den besten Ruf hat. Ansgar Klein, geschäftsführender Vorstand des Bundesverbandes freier KfZ-Händler, kennt diese Methoden. „In Schweden ist ein solches Fahrzeug einmal bei Tempo 30 über eine Bodenwelle gefahren und in zwei Hälften gebrochen.“

Ganze Geschäftszweige entstehen, weil es in Deutschland strikte Vorschriften gibt, die sich andere Länder nicht leisten können. Kauft ein Visitenkärtchen-Händler, wie manche vollmundig offerieren, für wenig Geld ein hinten schwer beschädigtes Unfallauto, kann dessen Vorderteil ihm noch locker einen vierstelligen Betrag erbringen – und nach einer Zwangsvereinigung mit einem neuen Hinterteil das Leben irgendeiner Familie in Georgien gefährden.

Prinzipiell, das erklärt Ansgar Klein, sei der Visitenkarten-Handel „nicht anrüchig“. Problematisch werde es, wenn Händler beim Kauf Druck erzeugen oder Autos über Gebühr schlechtmachen. Rechtlich bewege sich ein solcher Händler allerdings immer in der Grauzone, schließlich gebe es ein Gerichtsurteil, nach dem eine Karte am fremden Auto einen „unerlaubten Eingriff ins Eigentum zu Werbezwecken“ darstelle. Doch durchsetzen lasse sich das kaum.

Um keine Probleme zu bekommen, weichen manche Händler auf Parkplätze von Supermärkten aus, wo im Zweifelsfall nicht die Polizei, sondern der Betreiber des Supermarktes zuständig wäre, die Kundenautos vor Eingriffen zu Werbezwecken zu schützen, weiß ADAC-Rechtsexperte Klaus Heimgärtner zu berichten. Abgesehen davon beschäftigen die Visitenkärtchen den größten deutschen Automobilverband kaum: „Unser Interesse an einem Auto ist beendet, wenn es abgemeldet wurde.“ Nur mit manchen dreisten Händlern habe es Probleme gegeben, da sie auf ihren Kärtchen damit geworben hätten, vom ADAC zertifiziert worden zu sein. Vom ADAC zertifizierte fliegende Autohändler gebe es grundsätzlich nicht, stellt Heimgärtner klar.

Die Versuche, solchen Machenschaften anhand der Handynummern nachzugehen, liefen allerdings meistens auch ins Leere. Ständig würden Nummern und beteiligte Personen getauscht. Einmal habe ein am Telefon angesprochener Händler sich über die Androhung einer Strafverfolgung lustig gemacht. „Der hat gesagt: Kommt doch. Ich sitze in Afghanistan.“

So viele Grauzonen, so viele Informationen – und der Volvo ist immer noch da. Also dann. Anruf.

Der Augenblick, in dem etwas sehr schiefgehen kann

Wer kennt die Kärtchen nicht: Kaum ist der eigene Pkw in eine Parklücke manövriert und kurz alleine gelassen, klemmt ihm schon eine Offerte in der Tür. Ich möchte Ihr Auto kaufen!
Wer kennt die Kärtchen nicht: Kaum ist der eigene Pkw in eine Parklücke manövriert und kurz alleine gelassen, klemmt ihm schon eine Offerte in der Tür. Ich möchte Ihr Auto kaufen!

© Kai-Uwe Heinrich

„Hallo. Ich habe so eine Visitenkarte von Ihnen an meinem Auto.“
„Ja. Was für ein Fahrzeug?“
„Volvo V40. Baujahr 98. Benziner. Mit Schaltgetriebe.“
„Ah, höre ich, haben Sie schon viele angerufen.“
„Ja. So einige.“
„Wenn Sie möchten, kommen Sie zu mir.“

Samir, der erste Visitenkärtchen-Händler, der nicht selbst vorbeikommen will, nennt eine Adresse in Tempelhof. Sie liegt unweit der Gottlieb-Dunkel-Straße. Es ist eine bei Schraubern bekannte Gegend, in der nahen Autopresse gibt es so ziemlich alle Ersatzteile für so gut wie alle Autos gebraucht und günstig. Reparaturwerkstätten, Schrottverwerter und Händler reihen sich zwischen Kanal und dem Zubringer von der A100 zur Gradestraße aneinander.

Eine Fahrt in die Welt der so richtig gebrauchten Autos ist eine kleine Zeitreise. Hier haben die 90er nie aufgehört. Und irgendwo schimmern sogar noch die 80er unter dem Rost durch. Alleine schon der Zubringer: ein Betonmonster auf Stelzen, das, vom Damm der A100 über Teltowkanal, Straßen und Kleingärten hinab zur Gradestraße führend, zweispurig und wenig befahren die Umgebung dominiert. Das aus der PS-gläubigen Nachkriegszeit stammt, als autogerechte Städte wie die brasilianische Musterstadt Brasilia teilweise ohne Bürgersteige entstanden und in Berlin eine Autobahn quer durch Kreuzberg 36 geplant wurde.

Unweit von Samirs Autohandel streunt unschlüssig ein Hund entlang. Mehrere Männer in schwarzen Lederjacken lungern am Zaun herum. An der Einfahrt ist eine riesige Pfütze, durch die jeder muss, der hinein will, wie eine Art postzivilisatorisches Initiationsritual. Ist er hier etwa noch wach, der Geist der Beusselstraße?

Ich parke auf dem einzigen freien Platz mittig vor dem Geschäftshäuschen. Ein Mann kommt heraus, stänkert auf Polnisch herum und fragt dann jemanden im Häuschen: „Und so will er jetzt parken oder was?“ Als er keine Antwort bekommt, winkt er genervt ab und geht den Hund an der Einfahrt füttern. Ich steige aus. Der Zaun, an dem ich stehe, endet in einem mannshohen Schild, das sehr ausgeblichen Autobahn-Vignetten für Polen auf Deutsch und Englisch anpreist.

Samir kommt. Ziegenbärtchen, Jeansjacke, eine für seine ordentliche Statur etwas zu klein geratene Umhängetasche aus Leder. Ganz ernst mustert er erst mich, von oben nach unten, dann den Volvo, von links nach rechts. Irgendwie müssen wir beide den Test bestanden haben: Samir lächelt. „Kannst du aufmachen?“

Er ist nicht irritiert, dass die Motorhaube klemmt und nur geöffnet werden kann, wenn einer vorne zieht und ein anderer unter dem Lenkrad. Samir checkt das Öl, die Reifen und öffnet jede Tür, um sie sachte zufallen zu lassen. „Ja“, sagt er. „500.“ Da dieser Preis in diesen Wochen nicht zum ersten Mal fällt, klingt er fair. Aber der Preis ist nicht alles. „Was passiert denn mit dem Auto?“ Samir schreit den Lederjacken-Männern etwas auf Arabisch zu. Einer von ihnen steigt in eine ziemlich neue C-Klasse und fährt davon. „Der Volvo geht nach Benin.“ Also bleibt er ganz? „Ja.“

Obwohl er müde aussieht und permanent auf sein Handy guckt, ist Samir gerne bereit, Fragen zu beantworten. Er handele im großen Stil und nehme prinzipiell alle Marken, nur halbwegs fahrbereit müssten die Autos noch sein. Insgesamt 20 Männer seien mit im Geschäft, viele davon mit ihm verwandt, jeden Monat steckten sie eine gute vierstellige Zahl Kärtchen an parkende Autos in ganz Berlin. Seine Partner und er seien aus dem Libanon und würden das alles schon eine ganze Weile machen, das Geschäft laufe gut. Wenn sie acht oder neun Autos beisammen hätten, ganz unterschiedlich, wie schnell das gehe, würden sie einen Lastwagen mieten. Der bringt die Ware nach Hamburg, Bremen oder Antwerpen. Je nachdem, an welchem Hafen gerade der beste Preis für eine Überfahrt nach Benin zu bekommen ist. 1800 Euro koste so eine Fahrt, sagt Samir. Da er sich nicht auf die in Westafrika beliebten Marken konzentriere, sondern alles nehme, sei die Gewinnmarge pro Auto recht klein, das könne er aber durch die hohe Zahl verkaufter Autos wieder ausgleichen. Ich erzähle ihm, dass schon einmal ein Auto von mir nach Afrika verkauft wurde, 15 Jahre ist das her, kurz vor meinem Besuch in der Beusselstraße. Der mausgraue Nissan Sunny ging damals nach Angola. „Ja. Nissan wäre besser“, sagt Samir, während er etwas auf seinem Handy liest, um dann ein zweites Handy rauszuholen und gleichzeitig zu texten. Benin also. Ja, vielleicht. Aber nicht so schnell.

Der Gebrauchtwagen-Markt in Cotonou in Benin gilt als der größte der Welt. Das kleine Land war früher Teil von Französisch-Westafrika und hat die Form einer Fackel, die aus der Bucht von Benin in Richtung Sahelzone auflodert. In Cotonou kommen die meisten Autos aus Europa an, weil der Hafen im Vergleich zu anderen Städten der Region als relativ gut organisiert und die Mitarbeiter als vergleichsweise ehrlich gelten. Von allen deutschen Gebrauchtwagen gingen im Jahr 2014 mit über 39.000 die meisten nach Benin, auf Platz zwei folgt mit gut 25.000 Nigeria. Dorthin gelangen am Ende auch viele der Autos, die in Benin ankommen.

Was dort mit ihnen passiert, ist in einigen TV-Dokumentationen gut festgehalten. Sie kommen auf Schiffen an, die überdimensionierten schwimmenden Parkhäusern gleichen. Im Hafen von Cotonou werden die Autos von vielen jungen Männern für wenige Euros herausgefahren oder herausgeschubst, falls eine Schrottkarre es nicht mehr selbstständig von Bord schafft. In einem Pro7-Beitrag findet ein Reporter auf den Spuren deutscher Schrottkarren sogar mal Visitenkärtchen noch in einem der Autos, während es schon durch den Hafen von Cotonou fährt.

Haben Sie Interesse ihr Auto zu verkaufen???

Doch nicht nur die Fahrzeuge selbst sind heiß begehrt. In ihnen werden alte Kühlschränke und PC-Monitore transportiert, die oft mehr wert sind als ihre fahrenden Untersätze. Hier kommt auch eine weitere kreative Möglichkeit zum Geldverdienen ins Spiel, die moralisch flexible Händler mit Hilfe korrupter Beamter bisweilen nutzen: Sondermüll. Die sachgemäße Entsorgung von endgültig kaputten Röhrenbildschirmen ist in Deutschland ziemlich teuer. Doch können diese, einmal erfolgreich nach Afrika geschmuggelt, weitgehend kostenneutral in die Umgebung gekippt werden.

Die Autos werden schließlich auf einen abseits des Hafens gelegenen Markt gefahren, wo sie zumeist von nigerianischen Großhändlern weggekauft werden. Für zahlreiche Fahrer, Mechaniker, Benzinverkäufer, Sicherheitsleute und Hafenarbeiter in Benin bildet der Handel mit Gebrauchtwagen die Überlebensgrundlage. Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von etwa 730 Euro pro Person pro Jahr eines der ärmsten der Welt.

730 Euro. Pro Jahr. 730 Euro ist etwa 20 Euro weniger als die Summe, die mir vor dem ersten Anruf als unterste Grenze für den Verkauf des Volvos vorgeschwebt ist. Mehr als 500 hat noch niemand geboten – und bei diesem Angebot war ich ja schon mit dem ersten Händler, mit Mehmet. Im Grunde verstehe ich auch, dass der richtige Augenblick schon vorbei ist und ich mich jetzt noch viel schwerer von dem Volvo werde trennen können, so wenig ich ihn auch brauche. Wie ein seit acht Jahren zusammenlebendes Pärchen nun erst Recht einen Grund braucht, warum es ausgerechnet jetzt heiraten soll, bin ich bei der Trennung von meinem Volvo zu wählerisch geworden. Was also tun? Anruf. Und Anruf. Und noch mal Anruf.

„Hallo. Ich hatte ein...“
„Ja, Digger, warte mal.“

In den nächsten 45 Sekunden erfahre ich, dass es gar nicht geht, was Hassan gemacht hat, und irgendwann finde ich das auch, weil mein Gesprächspartner es so eindringlich irgendjemandem in seiner Nähe zubrüllt. Als ich wieder seine ungeteilte Aufmerksamkeit habe, fragt er: „Wo bist du?“

„Das Auto steht in Kreuzberg...“
„Ja, Digger, sag Adresse, komme ich vorbei, bin sowieso unterwegs.“

Fünf Minuten später steigen zwei sehr junge Männer mit weiter Hose und großem Schritt aus einem hinten schwer verbeulten BMW 5er aus. Sie stellen sich nicht vor. Der größere der beiden trägt eine Mütze und wippt mit seinem Kopf, obwohl keine Kopfhörer in seinen Ohren stecken. Zur Sicherheit setze ich mich auf den Beifahrersitz, während er den Schlüssel umdreht und sofort anfängt, an meinem Radio herumzuspielen. „Was ist das für eine Musik, ja?“ Ich antworte ihm: „Flux FM.“ Er sagt: „Kenn’ ich nicht.“

Plötzlich reißt sein Kumpel die Beifahrertür auf, will hinten reinspringen, fällt dabei halb vor den Kindersitz und muss auf der anderen Seite einsteigen. Der Mützenträger vorne macht das Auto aus.

„So, jetzt sag mal Preis, Digger. 50 Euro, ja?“
„Mir wurden schon 500 geboten.“
„Was, 500? Willst du mich verarschen, oder was?“
„Aber 500 ist eh zu wenig.“
„Was zu wenig, Digger?“
„Okay, steigt aus.“

Dann gibt es diesen kurzen Augenblick, in dem etwas sehr schiefgehen kann und alle das spüren. Der Augenblick zieht vorüber, und die beiden steigen aus. Ich setze mich ans Steuer und drehe einfach mal eine Runde, der Volvo muss ja in Form bleiben. Er hat noch einiges vor sich.

Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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