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Große Bandbreite. Auf eigenen „Autobahnen“ sollen Radfahrer künftig durch die Acht-Millionen-Metropole rollen. Das kostet viel Geld, macht aber Sinn, findet Londons Radbeauftragter.

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Ideen für Fahrradwege in Berlin: London will zur Radfahrerstadt werden

In London ist eine kleine Verkehrsrevolution zu beobachten, die Stadt wird seit Kurzem massiv für Radfahrer umgebaut. Ein Vorhaben sind Fahrradautobahnen. Ein Vorbild auch für Berlin?

Andrew Gilligan entschuldigt sich für die Verspätung, noch bevor er grüßt, und fragt ohne Umschweife: „Alles ist mal wieder anders, können Sie Rad fahren?“ Klar doch, was für eine Frage an einen Berliner. In England gehen die Uhren aber nun mal anders, und aufs Rad zu steigen in dem 8,5-Millionen-Moloch ist für den Londoner nicht selbstverständlich. Außer vielleicht für einen wie Gilligan, der das neue Amt des „Radbeauftragten“ führt. Und weil dieser Tage für Londons Verkehrsplanung eine neue Zeitrechnung beginnt, muss er schleunigst ins Funkhaus der BBC ans andere Ende der Stadt. Deshalb gibt es jetzt eh keine Alternative zum schnellsten Fortbewegungsmittel.

Was zuvor geschah? Am 11. März streifte der Bürgermeister von London, Boris Johnson, eine leuchtend gelbe Arbeiterjacke über und stieg am St. George’s Circus in die Führerkabine eines Baggers. Dann setzte er den ersten Schaufelstich für einen Jahrhundertplan. Dieser sieht den Bau von „Fahrradautobahnen“ vor, die London von Norden nach Süden und von Osten nach Westen durchziehen werden. Eine Milliarde Pfund lässt sich die Stadt das kosten, Bauzeit zehn Jahre. Das Geld stellen die städtischen Verkehrsbetriebe bereit. Während Berlin Radwege flickt und mit Kleckerbeträgen notdürftig ergänzt, tritt London mit voller Kraft in die Pedalen.

Zwei Pfund kostet ein Rad pro Tag

„Vor dem Rathaus gibt es eine Radstation, da treffen wir uns“, sagt Andrew Gilligan und eilt aus dem Neubau der Stadtverwaltung, der wie eine riesige krumme Gurke am Ufer der Themse steht. Londons Radleihsystem bewährt sich auch unter Zeitdruck: Kreditkarte in den Automaten stecken, Pin eingeben, die vielen Verkehrswarnungen wegklicken, schon ist man registriert und kann einen Entriegelungscode abrufen. Dieser wird am Fahrrad eingetippt, worauf die in Beton gegossene Parkkralle das Vorderrad freigibt. Zwei Pfund pro Tag kostet das, Kontinentaleuropäern ist die Begleitung von Insulanern zu empfehlen, denn der Linksverkehr ist fordernd.

Gilligan hat eine rote Windjacke übergestreift und die Akten im Rucksack verstaut. Die Straßen sind eng, Fahrradspuren selten, die Autos fahren dicht neben den Rädern. „London ist in der Neuzeit nicht neu erfunden worden, so wie Paris von Haussmann oder Berlin von Speer“, sagt der Fahrradbeauftragte. In Berlin war das James Hobrecht und nicht Speer, will ich ihm noch zurufen, aber da es er schon in eine der vielen Gassen abgebogen. Der große städtebauliche Eingriff kommt vielleicht erst jetzt, aber dafür um so weitreichender durch den Bau der „Superhighways“ für Radler. Im Frühjahr nächsten Jahres, wenn die Amtszeit von Gilligans Chef Boris Johnson endet, werden die ersten 35 Kilometer gebaut und die Fahrradrevolution nicht mehr aufzuhalten sein. Widerstand kam nur von Taxifahrern, Touristenbusbetreibern und Firmeninhabern im Büroviertel Canary Wharf. Aufhalten konnten sie die Rad-Autobahnen nicht.

Gilligan mogelt sich an haltenden Autos vorbei bis zur Ampel. Die Straßen sind eng, aber das ist nicht nur ein Nachteil: Die Autos fahren langsamer als in Berlin. Und gefühlt sind es weniger als hierzulande. Zu verdanken ist das auch der Maut, die über die Innenstadt verhängt wurde. Seitdem Fahrer zur Kasse gebeten werden, sollen 70 000 Autos weniger durchs Zentrum steuern. Und weil das Bahn- und Bus-Netz ähnlich gut ausgebaut ist wie in Berlin, haben viele in London geborene Engländer wie Andrew Gilligan nicht mal einen Führerschein.

In Kürze starten zwei Teststrecken mit Fahrradampeln

Auf der Mittelinsel vor dem BBC-Gebäude kettet er sein Fahrrad an einen Mast. Im Laufschritt geht es hoch ins Studio. Dort wartet schon Moderator Eddie Nestor. Der Baustart für die Radwege ist das große Thema in der Stadt und in Eddies täglicher „Drivetime“-Show.

Mehr Platz für Radfahrer in London. Die Stadt ist in der Vergangenheit fahrradfreundlicher geworden.
Mehr Platz für Radfahrer in London. Die Stadt ist in der Vergangenheit fahrradfreundlicher geworden.

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„Wir haben sieben Fahrräder im Haus, aber mit den Kindern würde ich wegen des Verkehrs niemals in die Stadt reinfahren“, beklagt sich eine Hörerin. „Genau deshalb bauen wir die Radwege“, sagt Gilligan. „Das Gedränge der startenden Autos und Räder, wenn die Ampel auf Grün schaltet, ist doch irre“, sagte ein anderer, warum es denn keine Extraschaltung für Räder gibt? „Gute Idee“, findet der Radkommissar, und deshalb starteten in Kürze zwei Teststrecken mit Fahrradampeln. Ein Taxifahrer fordert Nummernschilder für pöbelnde, rasende Radler. Gilligan lehnt das ab, wegen des bürokratischen Aufwands. Ein Hörer findet, dass das Projekt zu viel Geld verschlingt, was Londons Radchef so kontert: eine Milliarde Pfund auf zehn Jahre verteilt, das seien nicht mal drei Prozent vom Budget des öffentlichen Nahverkehrs. Die wohlwollenden Meinungen überwiegen in der Sendung, und der Radbeauftragte verlässt zufrieden das Studio.

Der typische Radfahrer in London kommt aus dem Mittelstand

Andrew Gilligan ist kein typischer Staatsdiener, sondern war zuvor Experte für Islamismus bei der Tageszeitung „Telegraph“. Aber Journalisten sind wohl auch die besten Eiferer, wenn es um das „Gute“ geht. Jedenfalls muss Gilligans Freund Boris Johnson davon überzeugt gewesen sein, als der Bürgermeister ihn zum Radbeauftragten ernannte. Täglich eine halbe Stunde braucht Gilligan mit dem Rad von seiner Wohnung in Greenwich zum Büro. Vom „Straßenkampf“ zwischen Auto- und Radfahrern in London, der es vor einigen Monaten sogar in die deutschen Nachrichten brachte, weiß er nichts. Er antwortet mit Zahlen: Im Jahr 1999 wurden in London 90 Millionen Radfahrten gezählt, wobei 33 Menschen tödlich verunglückten – im vergangenen Jahr seien „nur“ noch 13 Todesopfer zu beklagen gewesen, bei mehr als doppelt so vielen Radfahrten (210 Millionen).

Die Grenzen des Wachstums könnten allerdings bald erreicht sein. Denn „der typische Radfahrer in London ist weiß und kommt aus dem Mittelstand“, sagt Gilligan. Londoner mit Migrationshintergrund steigen kaum auf den Sattel. Außerdem ziehen nicht alle Bezirke beim Ausbau der Radautobahnen mit. Und weil deren Fürsten gewählt sind, kann die Stadtverwaltung anders als in Berlin nicht einfach Projekte an sich ziehen. Vielleicht entstand deshalb, ermuntert vom umtriebigen Bürgermeister und seinem Radbeauftragten, der irrwitzige Plan für eine Radbahn auf Stelzen über den Gleisen der Stadt- und Fernbahnen. 200 Kilometer lang ist das „Skycycle“, das Reichstagsarchitekt Sir Norman Foster anregt. Ein anderer Planer will die Radwege über der Themse aufhängen. Noch sind das nur Visionen, beflügelt sind sie aber von der machtvollen Demonstration der Stadtverwaltung, die mit dem Bau der Fahrradautobahnen den ersten Schritt zur Neuerfindung Londons getan hat.

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