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Beim Ballspiel zeigt sich, Jungs wollen um jeden Preis gewinnen und Mädchen nicht verlieren.

© dpa

Kolumne Meine Heimat: Ach, Jungs

Hatice Akyün liegt im Gras im Gleisdreieckpark und sinniert über die richtige Balltaktik - und lernt dabei Neues über das Geschlechterverhältnis.

Ich habe eine Einladung zu einer Veranstaltung bekommen. Es ging um Benachteiligung von Frauen im Beruf und in der Gesellschaft. Ich habe abgesagt. Nicht, dass das kein wichtiges Thema wäre, aber diese immer wieder vorgetragene Benachteiligung ohne praktische Konsequenz, langweilt mich.

Es scheint, die Aufrechterhaltung eines Problems legitimiert eher die Existenz von Politikern, als dessen Lösung. Statt mich also vom Wahlkampfeinerlei einlullen zu lassen, ergebe ich mich lieber der Großstadthitze. Politik findet auch auf der Straße statt, selbst wenn sie sich nicht direkt offenbart.

Ich liebe es, mich auf irgendeine Wiese in Berlin zu legen und zu beobachten, was um mich herum passiert. Am Wochenende war ich im Park am Gleisdreieck. Einige Meter entfernt, beobachtete ich eine Gruppe Jugendlicher. Sie spielten Ball. Es ging offenbar darum, den Ball so lange wie möglich zu halten. Die Gruppe bestand aus vier Jungen und acht Mädchen. Die Jungs bildeten ein Rechteck um die Mädchen und kreisten sie ein. Ein Junge lief mit dem Ball so weit davon, dass er bei dieser Entfernung den Ball nur noch ungenau abgeben oder den Ball verlieren würde. Die Mädchen trieben den Jungen mit dem Ball also weit weg, so dass sie ihm den Ball spielend abnehmen konnten. Zugegeben, die Jungs konnten besser mit dem Ball umgehen, aber jeder von ihnen spielte für sich. Die Mädchen dagegen organisierten sich, trieben den Ballbesitzer außerhalb der Reichweite seiner Kumpels und stoppten die Ballabgabe.

Die coolen Jungs begriffen nicht so recht, wie die Taktik der Mädchen funktionierte. Sie waren zwar beim Antäuschen, Werfen und Fangen weitaus beweglicher als die Mädchen, aber es nützte ihnen nichts. Die Mädchen spielten völlig unaufgeregt im Team, in ständiger Kommunikation, sich darin bestärkend, den Ball in den eigenen Reihen zu halten, ihn möglichst fern von den angreifenden Jungs im Kurzpassspiel untereinander kreisen zu lassen und den Jungs somit keine Angriffsfläche zu ermöglichen. Die Jungs holten sich den Ball nur durch Einzelaktionen zurück. Den Mädchen dagegen war es unwichtig, wer von ihnen wie lange den Ball hatte.

Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. Im Tagesspiegel schreibt sie einmal pro Woche über ihre Heimat.

© Promo

Je länger das Spiel dauerte, desto erschöpfter, verzweifelter und ausgetrickster wurden die Jungs. Sie kamen nicht auf die Idee, ihr rein auf Kraft beruhendes Spiel zu überdenken, und sich mit einer neuen Taktik von der Kontrolle der Mädchen zu lösen. Was mich faszinierte, war die Philosophie, die die Geschlechter antrieb. Die Mädchen wollten nicht verlieren und konzentrierten sich ausschließlich auf den Ballbesitz. Die Jungs wollten um jeden Preis gewinnen und powerten sich mit roten Köpfen, Fehlpässen und gescheiterten Kunststücken aus. Die Mädchen dominierten die Partie, wogegen die Jungs vergeblich anliefen.

Mädchen sind stark, Jungs sind Quark, riefen wir früher auf dem Schulhof. Ob die Politik wohl bald Männerförderpläne zum Wahlkampfthema machen wird? Oder wie mein Vater sagen würde: „Her basarisiz erkegin önünde bir kadin vardir.“ – „Vor jedem erfolglosen Mann steht eine Frau.“

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