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Wilde Mischung: Hier kann jeder mitmachen. Immer donnerstags ist Probe. Und wer den Rhythmus nicht halten kann, steht neben einem, der es kann. So funktioniert Gemeinschaft.

© Mike Wolff

Konzert des Straßen-Chors: Lieder aus dem Leben

Die Ensemblemitglieder haben eines gemeinsam: eine trübe Vergangenheit. Jetzt singen die ehemaligen Obdachlosen und Drogensüchtigen gemeinsam im Straßenchor. Für sie bedeutet das weit mehr als regelmäßiges Proben und Singen. Am heutigen Donnerstag geben sie ein Konzert.

Es gibt Lieder, die kann Gotthold nicht singen. Da ist die Stimme weg, da kommt kein Ton raus. „Geboren, um zu leben“ von der Band „Unheilig“ ist so eins. „Ich würde einen Herzinfarkt kriegen“, sagt der kleine, schmale Mann. Nicht weil er den Song musikalisch furchtbar findet. Er hält den Text nicht aus. Weil dann alles Unschöne in seinem Leben hochkommt. Stasi-Knast, Bautzen. Partner gestorben. „In mir war alles zerbrochen“, sagt Gotthold und winkt ab, Tränen in den Augen. Er ist 68 Jahre alt, trägt Jeans und schwarze Lederjacke und singt im „Straßenchor“.

Gotthold trinkt lieber Bier als Wasser, andere Chormitglieder ertragen die Wirklichkeit nur mit härteren Drogen, wurden misshandelt, von den Eltern verstoßen, kämpfen gegen Depressionen oder HIV, prostituierten sich. „Jeder von uns trägt eine Last aus der Vergangenheit mit sich herum“, sagt Frank Fels, der Vorsitzende des Straßenchor-Vereins.

„Der Chor hat mir das Leben gerettet”

Auf dem Alexanderplatz drückte jemand Gotthold einen Flyer in die Hand. „Von der Straße auf die Bühne“ stand darauf. „Was sind das für Idioten?“, dachte er sich. Er ist dann doch hingegangen. Und war fasziniert. Zuerst stand er am Rand, beobachtete, lehnte sich an die Wand, als wolle er Schutz suchen. Es vergingen mehrere Proben, bis er sich traute mitzumachen. Heute sagt er: „Der Chor hat mir das Leben gerettet.“ Wiebke, Thommy, Dean, Paul und Arcana nicken.

„Manche hangeln sich von Probe zu Probe“, sagt Frank Fels. So lassen sich die seelischen Durchhänger aushalten. Für Arcana, Anfang 20, ist der Chor „mein Energiebrunnen“. Seit sie hier mitsingt, ist sie nicht mehr abgestürzt. Ab März hat sie sogar wieder eine Arbeit. „Manchmal habe ich keine Lust, zur Probe zu gehen“, erzählt Wiebke, „doch danach bin ich ganz aus dem Häuschen“.

Menschen zusammenschweißen

Der „Straßenchor“ ist eine Idee von Stefan Schmidt. Er ist Konzertpianist und Chorleiter, ist in der Welt herumgekommen, hatte Erfolg und suchte noch etwas anderes im Leben. Es fiel ihm auf, wie viele Menschen in Berlin auf der Straße leben. Für sie wollte er etwas tun. Er sprach sie an und lud sie zum Chor ein. Bei der ersten Probe 2009 kamen zwei Dutzend Menschen. Heute machen regelmäßig 30, 40 mit. Der Jüngste ist 16, der Älteste Anfang 70. Sie sind in der Philharmonie mit „Carmina Burana“ aufgetreten, in der Komischen Oper, am Bodensee, in Marseille.

Das schweißt zusammen. „Alle für einen, einer für alle“, hat ein Chormitglied in einem Lied gedichtet. „Hier kannste mit jedem quatschen“, sagt Arcana, „du wirst angenommen, wie du bist“. Etliche haben den Kontakt zu den Eltern verloren, Beziehungen sind kaputt gegangen. Hier haben alle eine neue Familie gefunden. Die Zwölf-Apostel-Gemeinde in der Kurfürstenstraße stellt ihren Gemeindesaal zur Verfügung und auch die Küche. Vor der Probe wird geschnippelt und gerührt, nach der Probe zusammen gegessen. Für viele ist das Essen genauso wichtig wie die Musik – vor allem am Monatsende, wenn kein Euro mehr da ist.

Aus der Obdachlosigkeit

Das Leben auf der Straße ist herb, wenn man mit jemandem nicht kann, geht man sich aus dem Weg. Im Chor muss man auch mal andere Meinungen aushalten. Nicht jeder konnte das. Aber die meisten haben es gelernt. In den vier Jahren sind immer wieder neue Gesichter dazu gekommen. Und auch heute passiert es noch, dass jemand aus der Probe wegläuft – manchmal wohl auch, weil es zu schön ist, um es zu ertragen.

2009 hat Stefan Schmidt eine 14-jährige Ausreißerin aufgegabelt. Sie schlug sich mit Straßenmusik durch und fiel ihm wegen ihrer Stimme auf. Um im Chor mitsingen zu dürfen, rief sie sogar ihre Mutter an, um deren Zustimmung einzuholen. Darauf hatte Schmidt bestanden. Aus Cookie ist eine verantwortungsvolle Mutter geworden, sie hat ihren Schulabschluss nachgeholt und will studieren. Andere trauen sich jetzt zu, Praktika zu absolvieren. „Im Moment ist keiner von uns obdachlos – auch weil alle so eng zusammenhalten“, sagt Frank Fels.

Heute Abend singen sie in der Apostel-Kirche Schlager und Pop von „My Way“ über „Hallelujah“ bis zu „Fix you“. „Und wenn der Gaumen kitzelt und der Kiefer krampft vom vielen Singen, dann bin ich total glücklich“, sagt Wiebke.

19 Uhr, Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1, Schöneberg, Eintritt 10 Euro, ermäßigt 5 Euro

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