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Berlin: Latscht nicht so!

Das Knie tut weh, das Gelenk knirscht, die Oberschenkel werden schwer? Akzeptieren Sie’s: Sie können nicht joggen. Wie’s besser geht, zeigt Deutschlands vielseitigster Lauflehrer. Eine Trainingseinheit mit Matthias Marquardt

Matthias Marquardt geht gern spazieren, und für ein längeres Fachgespräch ist er immer zu haben. Aber beides zusammen, das funktioniert eher schlecht an schönen Frühlingstagen wie diesem. Ein, zwei Minuten lang geht man mit ihm um den Hannoveraner Maschsee, dann schaut der promovierte Mediziner, Buchautor und Lauftrainer schon wieder ein paar Joggern hinterher. „Na, das dauert nicht mehr lange bis zur Arthrose.“ – „Sehen Sie, wie der mit dem Knöchel einknickt?“ – „Mit dem Schuh kann das ja auch nichts werden!“

Frühlingszeit ist Läuferzeit. In Hannover am Maschsee, in Berlin an der Spree, im Tiergarten, im Grunewald. Im Minutentakt trotten sie vorbei, viele mit schmerzverzerrten Gesichtern, und man fragt sich: Wo sind bloß die Endorphine, die Glückshormone, die beim Laufen angeblich ausgeschüttet werden? Warum haben so viele Läufer offensichtlich so wenig Spaß? Wer Matthias Marquardt danach fragt, kann sich auf einen längeren Vortrag einrichten. Die Kurzform geht so: Viele Läufer können gar nicht laufen. Jedenfalls nicht so, dass schwere Oberschenkel, Kniebeschwerden und Gelenkverschleiß ausbleiben. Für diese Probleme bietet Marquardt eine Lösung an, die vielen Kritikern immer noch als Teufelszeug gilt: den Vorfußlauf.

An dieser Stelle ein kurzes Laufglossar: Der gemeine Freizeitläufer setzt zuerst mit der Ferse auf, rollt über den gesamten Fuß ab und stößt sich mit der Spitze ab zum nächsten Schritt. Die Last des Aufpralls, das Drei- bis Fünffache des Körpergewichts, übernimmt allein die Ferse.

Der ambitionierte Läufer jedoch landet au der Fußspitze oder auf dem Mittelfuß. Die Grenzen sind fließend, der Einfachheit halber verwenden wir den Begriff Vorfuß. Der Läufer federt über den Ballen, touchiert je nach Ausprägung auch mit der Ferse den Boden und stößt sich mit der Spitze ab zum nächsten Schritt. Entscheidend ist, dass Fußgewölbe und Wadenmuskulatur den Stoß dämpfen.

Lange galt das Vorfußlaufen als Domäne der Sprinter, auf der langen Strecke allenfalls geeignet für die Leichtgewichte aus Ostafrika, die ihre Muskulatur schon als Kinder durch endlose Barfußläufe darauf einstellen. Für alle anderen sei das nichts, monieren die Kritiker: Viel zu gefährlich, der Körperbau des Europäers sei nicht geschaffen für den Vorfußlauf, der mittelfristig Achillessehne, Sprunggelenk und Bänder ruiniere.

Matthias Marquardt kennt diese Argumente, er hat sich oft mit ihnen auseinandergesetzt, in unzähligen Vorträgen und den drei Büchern, die er mit seinen 30 Jahren schon geschrieben hat. Das bekannteste trägt den bescheidenen Namen „Laufbibel“ und widmet sich auf knapp 500 Seiten biomechanischen, medizinischen und sportlichen Facetten. Es geht um den Fuß, dessen wundersame Konstruktion aus Sehnen, Bändern und Muskeln beim Fersenlauf kaum genutzt wird. Um die Pronation, das Einknicken nach innen, das beim Vorfußlauf ganz natürlich ausgeglichen wird. Um das Verhältnis von belasteter Achillessehne und Struktur des Fußes. Ohnehin sei Laufen nicht nur eine Sache der Füße, sondern eine komplexe Angelegenheit: vom Einsatz der Arme über den aufrechten Rumpf, Hüftstreckung, Knie- und Oberschenkelhub. Das Aufsetzen des Fußes sei das letzte Glied der Kette. Die zusammenfassende Botschaft lautet: Wer seinen Laufstil der Anatomie des menschlichen Körpers anpasst, wird über den Ballen federn.

Das ist alles gut und ohne missionarischen Eifer formuliert, aber das praktische Beispiel wirkt immer noch am besten. „Laufen Sie mal barfuß über den Rasen“, sagt Marquardt. Der Selbstversuch fällt aus wie von ihm gewünscht. Die Landung auf der Ferse schmerzt, nach ein paar Metern federt man den Stoß automatisch über den Ballen ab. „Das ist die natürliche Bewegung, wie wir sie als Kinder gelernt haben“, sagt Marquardt. „Alles andere haben wir uns durch die Zivilisation angewöhnt, durch dicke Sohlen und Dämpfungssysteme in den Schuhen.“ Er spricht nicht von gutem und schlechtem, sondern von natürlichem und zivilisiertem Laufen.

Dass der Vorfußlauf einen schlechten Ruf hat, liegt auch an dem Bewegungsphilosophen Ulrich Strunz, der mit Büchern wie „Forever young“ (so heißt auch seine Kolumne bei Radio Eins) ein Vermögen verdient hat und von seinen Anhängern als „Fitnesspapst“ verehrt wird. In seinen Seminaren tänzelte Strunz ein paar Schritte auf dem Ballen, „wenn Sie federn, haben Sie auch ein anderes Lebensgefühl, nicht dieses plump, plump, plump wie ein Elefant, sondern wie eine Gazelle.“ Mit solchen Sätzen entließ er seine Zuhörer in die freie Wildbahn. Von einem Tag zum anderen stellten Heerscharen von Läufern ihre Technik um. Ein paar Wochen später saßen die neuen Vorfußläufer mit entzündeten Achillessehnen und steinharten Waden in den Wartezimmern ihrer Orthopäden. Diagnose: „Morbus Strunz“.

Matthias Marquardt schätzt Strunz als „sehr kompetenten und netten Menschen, wir telefonieren öfter miteinander“. Aber ein so komplexer Eingriff in die Biomechanik wie die Umstellung von den Rück- auf den Vorfußlauf lässt sich nun mal nicht mit zwei, drei launigen Formulierungen auf den Weg bringen. Oft sind neue Schuhe nötig, denn die handelsüblichen mit hohen Absätzen und aufwendigen Stützsystemen sind vor allem für Rückfußläufer gemacht. „Man kann nicht jahrelang mit der Ferse aufsetzen und dann von einem Tag zum nächsten sein gewohntes Pensum auf dem Ballen federnd absolvieren“, sagt Marquardt. „Wer Tennis spielen will, nimmt sich einen Tennislehrer. Warum denken Läufer, sie müssen ihren Sport nicht erlernen?“

Die Umstellung braucht ein paar Monate Zeit. Und Durchhaltevermögen. Wer über Jahre erfolgreich als Rückfußläufer unterwegs war, der tut sich schwer damit, wieder von vorn anzufangen, mit simplen Übungen und kurzen Ausdauerläufen. Die Wade mit Schollen- und Wadenzwillingsmuskel will vorsichtig, aber doch intensiv aufgebaut werden: mit Krafttraining, Stretching und motorischen Übungen, dem sogenannten Lauf-ABC. „Am besten barfuß auf dem Rasen laufen“, rät Marquardt, das stärke die Fußmuskulatur und gebe dem Läufer ein optimales Gefühl für die neue Technik.

Natürlich sei Vorfußlaufen kein Allheilmittel. Stark Übergewichtigen sei dringend abgeraten, Läufer mit anatomischen Fehlstellungen sollten ihren Arzt konsultieren. Ansonsten aber könne jeder seine Leistung bei exakter und vorsichtiger Umstellung deutlich steigern. Marquardt selbst federt problemlos einen Marathon auf dem Ballen durch. Wenn er denn mal Zeit hat und nicht als Trainer arbeitet, Bücher schreibt oder Vorträge hält. Und dann sind da noch die Spaziergänge, seine täglichen Fortbildungsveranstaltungen. „Ich habe von meiner Freundin die Lizenz erhalten, jeder Frau hinterherschauen zu dürfen.“ Von Zeit zu Zeit spricht er Läufer an, „aber nur die guten, die ich für ihre Technik loben kann. Die Hälfte von denen freut sich richtig“. Und die andere Hälfte? Matthias Marquardt lacht. „Die schauen mich ganz überrascht an und fragen: Was denn, kann man auch anders laufen?“

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