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Leben in West-Berlin: Maschinen, Muff und viel Musike

West-Berlin, die eingemauerte Stadt, Symbol der Freiheit. Ein neuer Fotoband zeigt das Leben hinter der Mauer – und erklärt den Mythos eines verschwundenen Lebensstils.

West-Berlin ist seit etwa 25 Jahren dabei, zu verschwinden – und wird dennoch als virtuelle Stadt immer größer. Jeder, der irgendwann zwischen 1945 und 1989 einige Zeit innerhalb des Mauerstreifens gelebt hat, verbindet damit reichlich Erinnerungen und Einbildungen. Die eingemauerte Stadt mit all ihren wunderlichen Erscheinungen war damals ein Symbol der Freiheit; heute, so scheint es, steht sie immer noch für einen spezifischen Lebensstil, dessen Verschwinden durch ihre symbolische Beschwörung verhindert werden soll. Kein Hotel eröffnet, keine Großbaustelle beginnt in der westlichen City, ohne dass viele an diese Ereignisse die Hoffnung auf eine Renaissance West-Berlins knüpfen, die selbstverständlich wirtschaftlich, insgeheim oft aber auch ideologisch zu verstehen ist.

Dabei ist das politische West-Berlin mit Ernst Reuter, Willy Brandt und John F. Kennedy samt deren weltbewegenden Deklarationen nur die Folie, hinter der sich ein Leben abspielte, das jene, die es auf Dauer erlebten, als völlig normal empfanden. Ein neues, dickes Fotobuch, „Leben in West-Berlin“, zeigt beide Aspekte in rund tausend Bildern aus dem Bestand der Agentur „picture alliance“, die laut Verlag zum Teil noch nie öffentlich gezeigt wurden. Viele sind darin, die man kennt oder zu kennen glaubt, und die überwiegend von den politischen und kulturellen Höhepunkten stammen. Doch es gibt auch andere, die selbst angestammte West-Berliner ins Staunen bringen: War das wirklich so?

Offenbar. Da liegen britische Soldaten bewaffnet und in voller Kampfmontur bäuchlings auf einer Wiese am Fehrbelliner Platz, gleich neben ihnen zwei Jungs in kurzen Hosen, hinten Passanten und ein Ford Taunus des Typs Badewanne: ein Militärmanöver 1961, vermutlich nach dem Mauerbau. Füllte im selben Jahr ein Tanzturnier um den „Großen Preis von Europa“ wirklich die Deutschlandhalle? Lagen noch 1982 die Trümmer zerbombter Häuser in Kreuzberg herum? Hat der evangelische Kirchentag 1951 wirklich das komplette Olympiastadion gefüllt?

Manches auf diesen Bildern erklärt sich von selbst, manches bedarf ausführlicher Erläuterungen, jedenfalls, wenn Betrachter es verstehen sollen, die diese Zeit selbst nicht mehr erlebt haben. Was soll diese Warteschlange am Bahnhof Zoo? (Es sind Wohnungssuchende, die am Sonnabend auf die Sonntagszeitungen mit den Immobilienanzeigen warten.) Woher kam die groteske Begeisterung für viele längst vergessene Filmstars und Schlagersänger? Woher der Ansturm auf die Wühltische des Schlussverkaufs?

Manches Bild transportiert auch eher den bundesdeutschen als den West-Berliner Muff, steht aber dennoch für die trotzige Selbstbehauptung der Stadteliten gegen den gesellschaftlichen Wandel: Grotesk, in welcher Renaissanceaufmachung TU-Rektor Herbert Kölbel den Raketenforschern Hermann Oberth und Wernher von Braun die Ehrendoktorwürde verlieh – und was für ein Ereignis war denn das?

Überhaupt, die Universitäten, eine geistige Schaltstelle der Frontstadt. Willy Brandt redet vor der Versammlung der Deutschen Burschenschaften, der (heute völlig vergessene) Literaturnobelpreisträger Salvatore Quasimodo spreizt sich vor dem voll besetzten Audimax der FU, dann natürlich die Studentenbewegung mit ihren großen Demos und seltsamen Inszenierungen – flankiert von der damals revolutionär, heute eher spießbürgerlich wirkenden Idylle des studentischen Lebens, zu sehen beispielsweise auf Bildern aus der frisch besetzten Ufa-Fabrik in Mariendorf.

Ebenso zentral: Die von einer geradezu naiven Technikbegeisterung getragene Aufbruchstimmung der Sechziger. Die TU nimmt einen kleinen Kernreaktor in Betrieb, die ersten Großcomputer rasseln mit den Lochkarten, die „Internationale Bootsschau“ am Funkturm zeigt ein Sporttauchboot aus Kunststoff, die Funkausstellung einen Antennenwald. Unbezahlbar: Helmut Kohl mit Sozius Eberhard Diepgen auf einem aufgebockten Motorrad bei BMW in Spandau. Dann die Wir-sind-wieder-wer-Demonstrationen feinster Wohnkultur bis hin zu Heinz Draches vom Dekorateur strammgezogenen Plisseegardinen – Noblesse grotesk.

Am Ende sind es aber immer die kleinen, fast privaten Beobachtungen, die dem Betrachter das Gefühl geben, etwas noch nie Veröffentlichtes zu sehen: Der knietiefe Graben, gerade frisch ausgehoben, der 1952 in Heiligensee den französischen Sektor vom sowjetischen Einflussbereich trennen soll. Ein Wohnwagen auf Pontons, als Sommerlaube schwimmend im Wannsee; Rollschuhhockey in der ICC-Unterführung, die kitschige Kunstfertigkeit der Pflastermaler. Am Ende, unweigerlich, der Mauerfall, das Ende West-Berlins. Und auch sein Neubeginn, geistig-moralisch gesehen.

— Günther Wessel: Leben in West-Berlin, Alltag in Bildern 1945-1990. Elsengold-Verlag, 49,95 Euro.

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