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Berlin: Leben Test oder

Bald wird es eine neue Blutuntersuchung auf das Downsyndrom geben – schnell und risikolos. Was den Mediziner Michael Entezami begeistert, fürchtet Esther Hottenrott, Mutter eines Trisomie-21-Kindes: die Treffsicherheit des Tests. Ist ihr Sohn Caspar einer der Letzten, die noch zur Welt kommen durften?

Von Barbara Nolte

Esther Hottenrott sitzt an ihrem Küchentisch in der Gotenstraße in Schöneberg. Sie ist Bühnenbildnerin, eine lebhafte, zierliche Frau mit lockigen Haaren. Als sie erfuhr, dass sie schwanger war, entwarf sie gerade eine Skulptur für das Foyer des Stadttheaters Basel, erzählt sie. Das Kind kam im Frühjahr, ein Junge. Sie nannten ihn Caspar. Caspar war klein, er trank schlecht. Drei Tage war er alt, als Esther Hottenrott Fotos von ihm machte. Sie schaute durch den Sucher und dachte: „Der sieht einfach anders aus.“ Nach einer Woche bestätigte ein Arzt im Krankenhaus ihre Ahnung: Downsyndrom. Der Arzt sagte: „Und so was kurz vor Ostern.“

Michael Entezami steht in der Tür des Besprechungszimmers der Gemeinschaftspraxis Kudamm 199, der er angehört. Ein schmaler Mann in einem zu großen Anzug. Entezami war Gynäkologe in Lüneburg, als er eine schwangere Frau betreute, der eine Frühgeburt drohte. Sie holten das Kind schließlich mit einem Kaiserschnitt. Es stellte sich heraus, dass es Trisomie 18 hatte, eine Chromosomenstörung, weit folgenschwerer als das Downsyndrom. Diese und eine andere ähnliche Erfahrung, sagt Entezami, hätten ihn bewogen, Pränataldiagnostiker zu werden. „Da haben wir alles dafür getan, eine Schwangerschaft zu erhalten, und das Kind starb nach wenigen Wochen.“ Er spricht leise und sehr schnell. „Wir wussten es damals nicht besser.“

Auch Esther Hottenrotts Sohn Caspar schwebte über Monate zwischen Leben und Tod. Seine Aorta war verengt, die Herzscheidewand hatte ein Loch. Kinder mit Downsyndrom haben häufig schwere Herzfehler. Die ersten Wochen schlief Esther Hottenrott neben ihrem verkabelten Kind im Krankenhaus. Caspar wurde operiert, acht Stunden lang. Sie habe es kaum ausgehalten, sagt Hottenrott, ihr Baby der Apparatemedizin überlassen zu müssen.

Drei Wochen verspätet verschickten sie die Geburtsanzeige: Ein hübsches Foto, auf dem Sarah, Esther Hottenrotts damals zweijährige Tochter, den kleinen Bruder auf dem Arm hält. Ein Freund antwortete: „Ach, du scheiße.“ Eine Nachbarin sagte: „Deine Karriere kannst du dir abschminken.“ Eine Verwandte fragte: „Haben sie denn keine pränatale Diagnostik gemacht?“ Fast 13 Jahre ist das nun her. Da deutete sich schon an, was viele Eltern von Kindern mit Downsyndrom berichten: Früher mussten sich Paare dafür rechtfertigen, ein Kind abzutreiben. Heute müssen sie sich dafür rechtfertigen, ein Kind nicht abgetrieben zu haben, wenn es behindert ist.

Sechs Ärzte, die jährlich 8000 Schwangeren mit Ultraschallsonden in die Bäuche schauen, vier Humangenetiker, die die Gene aus dem Fruchtwasser und der Plazenta auf Defekte untersuchen: Kudamm 119, wo Michael Entezami seit zwölf Jahren Teilhaber ist, ist Berlins größte Praxis für Pränataldiagnostik. Seit seiner Zeit als Klinikarzt in Lüneburg haben sich die vorgeburtlichen Untersuchungsmethoden stark verbessert. Auch hat sich das Einsatzgebiet erweitert: Die meisten Patientinnen kommen nicht in die Praxen, um abklären zu lassen, ob ein Fötus so schwer geschädigt ist, dass er kurz nach der Geburt stirbt. Sondern weil sie mit einem behinderten Kind nicht leben wollen. Die Untersuchung auf das Downsyndrom, medizinisch Trisomie 21, ist zumindest für ältere Schwangere eine Selbstverständlichkeit geworden. „Die Frauen kommen zu uns, um zu hören, alles ist gut“, sagt Michael Entezami. „Wenn das nicht so ist, ist das für viele ein Schock, der eine Krise auslöst, die mit einer Krebsdiagnose vergleichbar ist.“

Entezami hat sich an den Konferenztisch gesetzt, die Hände auf der Tischplatte gefaltet. Er berichtet von einem neuen Test, mit dem aus nur zehn Milliliter Blut der Mutter, entnommen in der zwölften Schwangerschaftswoche, festgestellt werden kann, ob sie ein Kind mit Trisomie 21 erwartet. Mit fast hundertprozentiger Sicherheit und ohne das Risiko, das Kind durch die Untersuchung zu verlieren. Entezami hat an der Pilotstudie mitgearbeitet, er ist spürbar stolz darauf. Ein paar Jahre ist es schon her, da ließ er bei 60 Frauen, bei deren Föten Verdacht auf Trisomie 21 bestand, Blut sowie Fruchtwasser oder Plazenta-Gewebe auf die Chromosomenstörung testen. In allen neun Fällen, bei denen das Downsyndrom vorlag, kam der Bluttest zum selben Ergebnis. Was mit den Kindern passiert ist? Wurden sie abgetrieben? „Davon gehe ich aus“, sagt Entezami.

Casper, Esther Hottenrotts Sohn, ist mittlerweile zwölf Jahre alt. Jetzt steht er in der Küchentür. Schwarzer Pulli, beige Cordhose. Einen Ball in der Hand, den er nach der Mutter wirft. „Jetzt ist Ende im Gelände. Geh in dein Zimmer. Wir wollen uns unterhalten“, sagt Esther Hottenrott und schiebt ihn zur Tür hinaus.

„Kinder wie Caspar“, sagt sie, „wird es bald nicht mehr geben.“ Zwischen 90 und 95 Prozent der Schwangeren treiben ab, wenn sie den Befund Downsyndrom bei Untersuchungen vor der Geburt bekommen. Noch gehen nicht alle dorthin. Doch der risikolose Bluttest könnte bald zur normalen Schwangerschaftsvorsorge gehören. „Nach einem positiven Testergebnis ist das Kind plötzlich nicht mehr das Kind, sondern nur noch das Downsyndrom. Da wird ein Mensch auf eine klinische Diagnose reduziert“, sagt Esther Hottenrott. „Dabei sind Menschen mit Downsyndrom so verschieden wie alle anderen Menschen auch. Was maßen wir uns an, zu bestimmen, wen wir in die Gesellschaft hereinlassen und wen nicht?“

Als Hottenrott mit ihrer Tochter schwanger war, hat ihre Frauenärztin sie auf die pränatale Untersuchung hingewiesen. „Und was ist, wenn sie was finden?“, fragte sie damals zurück, „operieren sie dann im Bauch?“ Auch mit Caspar ist sie nicht hingegangen. Sie ist keine Abtreibungsgegnerin. „Aber wenn man sich ein Kind wünscht“, erklärt sie, „kann man doch nicht sagen: Dieses Kind nehme ich, dieses Kind nehme ich nicht.“

An einen Schock, von dem Michael Entezami berichtet, wenn Eltern von einem Befund auf Downsyndrom erfahren, kann Hottenrott sich nicht erinnern. Ihr ganzes Denken kreiste damals um die Lebensgefahr, in der Caspar schwebte: Wie sie das Baby retten und der kleinen Tochter gerecht werden könne. Ihrem damaligen Lebensgefährten ging es genauso. Dem Mitleid und mancher Taktlosigkeit begegneten sie mit Trotz. Der Bekanntenkreis, sagt Hottenrott, habe sich schnell neu sortiert. „Wer ein behindertes Kind bekommt, wechselt in der Gesellschaft die Straßenseite.“

Das fange schon damit an, dass man die Anonymität verliere, erklärt sie. Caspar fällt mit seiner sichtbaren geistigen Behinderung im Stadtbild auf. „Mama, die glotzen“, sagte Tochter Sarah manchmal, wenn sie zusammen in der U-Bahn saßen. „Wir glotzen zurück“, sagte Hottenrott dann, und alle drei erwiderten ostentativ starrend die Blicke. Heute spricht die Tochter, mittlerweile 16, vom „Zoogefühl“. Abschätzige Bemerkungen seien selten, sagt Esther Hottenrott. Aber auch vermeintlich Positives sei eine Abgrenzung, etwa wenn jemand sagt: „Wie Sie das nur schaffen!“

Dabei waren die Anstrengungen, Menschen mit Downsyndrom in die Gesellschaft zu integrieren, nie so groß wie heute: Kinder mit Downsyndrom spielen in Fernsehfilmen mit. Sie sind auf großen Plakatflächen abgebildet. Alles Diskriminierende, vom lange gebräuchlichen Wort mongoloid bis zur Bezeichnung Sonderschule, wo viele dieser Kinder unterrichtet werden, ist aus dem Sprachgebrauch verbannt. Viele besuchen diese Schulen auch gar nicht mehr, die heute Förderzentren heißen. Kinder mit Downsyndrom werden zusammen mit nicht behinderten Kindern unterrichtet.

Auch Esther Hottenrott schulte Caspar in der Regelschule ein, die Charlotte-Salomon-Grundschule in Kreuzberg. Vor zwei Jahren hat sie ihn wieder heruntergenommen. Die anderen hielten schon Referate, sagt sie, Caspar malte noch Vorlagen aus. Er habe sich dort das Verhalten eines Klassenclowns angewöhnt. „Er spürte, dass er das Geforderte nicht bringen konnte, also brachte er etwas anderes.“ Sie hält vieles für „reine politische Korrektheit“, was als Errungenschaft gilt, Camouflage, die bemäntele, dass die Gesellschaft mit Behinderten immer weniger selbstverständlich umgehe. Die Fernsehfilme „verkitschten“ Menschen mit Trisomie 21: „Der kleine Downie, der das perfekte Familienglück erst herausfordert und dann aufgrund seiner Niedlichkeit bereichert.“ Auch die Plakate der „Aktion Mensch“ mit den „zurechtgemachten“ Menschen mit Downsyndrom, wie sie es ausdrückt, findet sie zwiespältig. „Die zeigen: Wenn man behindert ist, muss man wenigstens klasse aussehen. Behinderte werden möglichst auf unsere Idee von lebenswertem Leben gebracht.“

Caspar geht jetzt in der Mittelstufe der Finkenkrug-Schule, ein Förderzentrum mit Schwerpunkt geistige Entwicklung in Wilmersdorf. „Wir helfen den Kindern, das Leben zu bewältigen“, sagt seine Lehrerin, Elinor Fernandez. „Wir wollen sie nicht auf einen Standard bringen, der sich etwa in Beurteilungen ausdrückt: ,Das Kind bewegt sich im Zahlenraum von 0 bis 20.’ Was soll das heißen?“ Caspar kann zählen, aber nur, wenn er die Löffel Kakao abzählt, die er sich in die Tasse schüttet. Er ist das einzige Kind mit Downsyndrom in der Klasse. Früher, sagt Fernandez, seien es mehr gewesen. Stattdessen landeten häufig Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten an ihrer Schule. Aus der Inklusion, wie sie seit Jahren propagiert wird, die alle mitnehmen soll, fallen andere heraus.

Fernandez unternimmt häufig Ausflüge mit ihren Schülern. Sie findet das Klima draußen mitunter „angestrengt integrativ“. Es gelte zwar die Prämisse, dass alle aufgeklärte, liberale Menschen seien. Doch man schaue sich den Einzelnen nicht mehr richtig an. „Vor ein paar Jahren war der Umgang mit Behinderten unbeschwerter.“

Vor Renate Brünig sitzen die Paare, die überlegen, ob sie in der heutigen Zeit ein behindertes Kind bekommen sollen. Brünig leitet die Beratungsstelle von Donum Vitae am Kurfürstendamm 199, im Hinterhaus der pränataldiagnostischen Praxis. „Mitunter holen wir völlig verzweifelte Frauen dort ab“, sagt sie. Brünig kocht den Frauen Tee, reicht ihnen Taschentücher. Ein ganzes Fach im Regal ihres Beratungszimmers hat sie mit Papiertaschentuch-Päckchen vollgestopft. Brünig kommt aus der Frauenbewegung, seit 30 Jahren berät sie Schwangere. In den Sitzungen gehe es um ein Innehalten, sagt sie, darum, den Automatismus zu durchbrechen, einen Schwangerschaftsabbruch zu machen, was oftmals der erste Impuls sei. Deshalb hat Brünig auch gegen den Bluttest auf Trisomie 21 „massive Bedenken“. Noch spürten die Frauen, dass es um Leben und Tod gehe. Existenzielle Fragen kämen auf: Wer erlaubt mir, dass ich das entscheide? Darf ich das überhaupt? Wer bin ich? „Wird ein Test auf Trisomie 21 zur Standarduntersuchung, wird auch eine Entscheidung zum Abbruch scheinbar leichter.“

Oben, im vierten Stock des wuchtigen Gründerzeitbaus, sitzt Entezami, der Arzt, und redet den Test klein. Die meisten Frauen würden ihn ohnehin nicht machen, er sei zu teuer, 1200 Euro. Die Krankenkassen zahlten ihn nicht. Außerdem müsse das Blut nach Konstanz transportiert werden, wo Computer drei Tage lang bräuchten, um den Befund zu erstellen. Und wenn die Kassen den Test dennoch schnell in ihr Standardprogramm aufnehmen, weil es sie viel teurer kommt, einen Menschen mit Downsyndrom ein Leben lang zu versorgen? „Das ist eine gesellschaftliche Entscheidung“, sagt er.

Esther Hottenrott fürchtet, dass die Gesellschaft ein routiniertes Aussortieren von Menschen mit Downsyndrom letztlich billigt. Ihr Sohn Caspar ist noch zu jung, um zu wissen, was pränatale Diagnostik ist. Aber später, wenn er es begreife, sagt sie, wie soll er sich dann fühlen? „Etwa: ,Ich bin denen durch die Lappen gegangen’?“ Eltern von erwachsenen Kindern mit Downsyndrom sagen, dass sie ihnen das Thema verschweigen, weil es sie ängstigen und beleidigen würde.

Bislang, sagt Michael Entezami, sei die Anzahl der Geburten von Kindern mit Trisomie 21 noch konstant. Die hohe Abtreibungsrate werde dadurch ausgeglichen, dass Frauen später Kinder bekommen; das Risiko, ein Kind mit der Chromosomenstörung zu erwarten, steigt mit dem Alter der Mutter. „Man darf das Downsyndrom nicht verharmlosen“, sagt er. „Es geht häufig einher mit einer schweren geistigen Behinderung. Es sind noch immer die Frauen, die die Kinder pflegen. Neun von zehn Beziehungen zerbrechen daran.“ Entezami steht auf. Er will weiter. Er hat heute eigentlich seinen freien Tag. „Die Frau entscheidet“, sagt er noch. Entezami, der Karrieremediziner, als nüchterner Vertreter des Mottos der Frauenbewegung: Mein Bauch gehört mir. Draußen im Wartezimmer hängen Hunderte Fotos von Neugeborenen, deren Mütter in der Praxis untersucht wurden: Babys mit rosigen Gesichtern, manche noch ganz verquollen von der Geburt. Eines hat die typisch schräg gestellten Augen. Darauf steht geschrieben: Matilda, geboren im September2009. Vielleicht ist sie eine der Letzten ihrer Art.

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