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Berlin: Angelika Rutenborn (Geb. 1915)

Von den Männern erzählte sie, von sich sah sie ab

Im Skikurs, mit Lilli, Hilde, Lilo, Tutti, Anne.“ Pumphose, Sonnenbrille, offene Haare, die Bretter auf der Schulter balancierend. Angelika, die „winzige“ Pfarrerstochter, 1937, auf Winterfreizeit im Riesengebirge, Gemeinde Krummhübel, Pension Eldorado.

Eine Seite zurück im Album: Angelika mit vielen anderen in Paddelbooten, Station einer Kreuzfahrt mit dem berühmten Flussdampfer Baldur, 1934.

Noch früher, aber ohne Fotonachweis. Warum nicht? Angelika hat sich zur Konfirmation eine Flugreise nach Hamburg gewünscht. Und bekommen. Ein exzentrisches Abenteuer für eine Pfarrerstochter, aber nicht ungewöhnlich für das Elternhaus. Die Wendlands bewohnen das große Pfarrhaus neben der Gethsemane- Kirche in Prenzlauer Berg. Fast täglich kommen Besucher und Gäste, die bewirtet werden und von ihren Erlebnissen berichten.

In Hamburg gelandet, besucht sie Freunde, Angehörige der Reemtsma-Familie. Dort fängt sie das Rauchen an. Angelika wird Kettenraucherin, woran sich niemand stört. Am Ende ihres langen Lebens vergisst sie das Rauchen einfach, eine Folge der Demenz.

Im Album weiter hinten. Angelika als Mitglied im Gymnastik- und Schwimmverein Pankow bei einer Trockengymnastik-Vorführung im Lunapark am Halensee. Die Schwimmerinnen im Badeanzug beugen sich nach vorne rechts, den Arm vorstreckend, mit Fingerzeig, wie in Michelangelos Sixtinischer Kapelle.

Ein anderes Foto zeigt sie auf einem Traktor, 1935, beim Reichsarbeitsdienst. Eine Pfarrerstochter als Landarbeiterin mit Kopftuch. Eigentlich hat sie Sekretärin gelernt. Na und? „Angelika betreibt keinen emotionalen Aufwand“, sagt ihre Nichte. Wohin das Leben sie stellt, wird sie aktiv. Sie hadert nicht mit dem verengten Frauenbild ihrer Zeit. Die Nazis okkupieren das öffentliche Leben, vertreiben die Juden, schicken ihren Bruder an die Ostfront und in den Tod. Angelika bewegt sich im geschützten Raum ihrer Familie und der Gemeinschaft der Bekennenden Kirche. Sie heiratet einen Theologen und zieht mit ihm ins Pfarrhaus von Senzke im Westhavelland.

Auch Senzke wird ein Schutzraum im Terrorgetriebe des Nazireichs. Zwei jüdische Geschwister, die ihre Mutter im Gemeindehaus versteckt, kommen zu Angelika, wenn die Lage in Berlin zu unsicher wird. Nach den Juden sind es Deserteure, die aufgenommen werden, später die jungen Frauen des Dorfes, die Angst haben vor der Rache der russischen Soldaten. Mehr als 100 Menschen sollen zeitweise bei ihnen im Pfarrhaus gewohnt haben, bewacht von einem Offizier der Roten Armee.

Angelika kocht und wäscht und gärtnert und verzweifelt nicht, denn sie weiß, dass es recht ist, was sie und ihr Ehemann tun, vor Gott und vor den Menschen. Als Freunde ihnen den dringenden Rat geben, aus der DDR zu fliehen, weil man sie der Aufwiegelei verdächtigt, bleiben sie, weil es für einen Pfarrer nicht recht wäre, seine Gemeinde im Stich zu lassen.

Als Rentner ziehen sie doch in den Westen. Mit dem Tod ihres Mannes 1976 beginnt Angelikas letztes Lebensdrittel. Erst Pfarrerstochter, dann Pfarrersfrau, schließlich Pfarrerswitwe. Ihre gelehrten, schreibenden, komponierenden und dozierenden Männer – Vater, Bruder und Ehemann – hat sie immer bewundert und unterstützt. Von ihnen erzählte sie, von sich sah sie ab. Ihr großes Talent, sich mühelos Freunde zu machen, fiel nicht weiter auf, nährte aber stetig ihre Lebensfreunde und die ihres Mannes.

Sie arbeitet ehrenamtlich im Dritte- Welt-Laden der Gedächtniskirche und ordnet Postkarten im Ethnologischen Museum in Dahlem. Sonntags geht sie zu den Philharmonikern und wird mit den Jahren ordentliches Mitglied der informellen „Anstehclique“, die sich das Schlangestehen um Karten trickreich verkürzt. Sie liest den Tagesspiegel und bestellt regelmäßig die beworbenen Weinpakete. Vor Schulklassen erzählt sie von der Nazizeit und dass man keine Angst haben soll, Widerstand zu leisten.

Ihre Geburtstage dienen zunehmend der Vergewisserung, dass alle noch da sind. Die Glückwunschanrufe protokolliert sie in einem Heft, die Glückwunschbriefe werden gezählt und der Reihe nach beantwortet. Umgekehrt erhalten Freunde und Verwandte eigenhändig getippte Weihnachtsgedichte.

Vor dem Tod hat sie keine Angst. Sie staunt selbst über ihre robusten Lebensgeister, bei all dem Wein und den Zigaretten. Ärgerlich sind nur die Vorboten, die der Tod ins Leben schickt. Oberschenkelhalsfraktur, Rollator, Pflegedienste, Heimaufnahme. Nur nicht den Lebensmut verlieren! Angelika blättert in Zeitungen, Büchern, Fotoalben, lässt Vergangenes aufblitzen und Gegenwärtiges im Nebel versinken. Sie ist dankbar und sehr, sehr müde. Thomas Loy

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