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Berlin: Inge Franken (Geb. 1940)

Sie sucht weiter. Fragt sich: „Warum willst du das alles wissen?“

Es ist wieder Sonntag, die Mutter ruft die Kinder zusammen und öffnet den Koffer, holt Briefe aus ihm hervor, Feldpostbriefe des Vaters aus Russland. Sie beginnt zu lesen. Mitten im Satz stockt sie. Ihre Augen flattern unruhig über die Zeilen. Sie liest weiter. Schweigt wieder. Inge stellt sich vor, der Vater sitzt 1942, kurz bevor er sterben wird, in seinem Soldatenmantel am Ende der Welt und schreibt mit halb erfrorenen Fingern über die Liebe. Nichts für Kinderohren.

Am 14. Oktober 1941 beginnen die Massendeportationen der Berliner Juden, darunter Kinder aus dem Heim in der Fehrbelliner Straße 92 in Prenzlauer Berg. Frieda Steinberg, das jüngste Kind, ist vier, als die Nazis sie ermorden.

In den achtziger Jahren übergibt die Mutter Inge den Koffer. Sie öffnet ihn, holt die Briefe hervor, beginnt zu lesen und stockt mitten im Satz. „Ungeziefer“ steht dort über die Juden und Partisanen, „Ratten, die ewig leben, wenn man sie nicht erschießt.“

1995 spricht Inge zum ersten Mal mit Menschen, die wie sie aus Nazifamilien kommen. In den USA, während eines Treffens von Juden, deren Eltern und Geschwister im Holocaust ermordet worden waren, die aber das Schweigen nicht aushielten, erzählte jemand, er habe das Kind eines Täters getroffen. Dieses Kind, lange schon erwachsen, könne ebenso wenig mit dem, was geschah, leben. So entstand „One by One“, seit 1997 treffen sich die Mitglieder der Organisation in der Fehrbelliner Straße 92.

Als Inge dorthin kommt, wundert sie sich über die zwei Handläufe an der Treppe, ein hoher, ein niedriger. Hier befand sich das jüdische Kinderheim. Sie beginnt zu suchen. Liest Akten, setzt Anzeigen in Zeitungen, schreibt Briefe. Eine Frau antwortet ihr, meldet sich dann aber doch nicht mehr, zu mächtig der Schmerz. Inge verliert den Mut. Findet ihn wieder. Sucht weiter. Fragt sich: „Warum willst du das alles wissen?“ Antwortet: „Die unendlich vielen Toten erschrecken mich.“

Im Archiv der Jüdischen Gemeinde bringt man ihr einen Stapel Zettel mit Namen, Geburtsdaten, Deportationsdaten. Sie sieht die Worte „verschollen“, „evakuiert“, „Schicksal ungeklärt“. Auf einigen Zetteln aber steht auch „hat überlebt“ und „ist ausgewandert“. An einem Samstagmorgen läutet ihr Telefon. Jacob Herfeld ist bereit, von seiner Zeit im Kinderheim zu erzählen. Sie fährt zu ihm ins Altersheim. Sie bekommt mehr und mehr Hinweise, findet weitere Überlebende, sammelt ihre Erinnerungen und die wenigen Spuren der 49 ermordeten Kinder und Betreuer in dem Buch „Gegen das Vergessen“.

Und sie besucht gemeinsam mit einer Jüdin Schulklassen. An einer Berufsschule in Hennigsdorf meldet sich ein junger Mann: „Ich dachte, jetzt kommt eine Frau, die stolz ist, einen Vater gehabt zu haben, der Juden erschossen hat.“ Andere junge Männer feixen. Die Stunde wird abgebrochen. Die Schüler sollen aufschreiben, was sie denken. Vier Wochen sitzt Inge vor den Blättern. Sie hat 20 Jahre als Lehrerin gearbeitet, sie hat vier Kinder großgezogen, sie weiß, sich jetzt blind und taub zu stellen, wäre der Fehler, der schon zu oft gemacht worden ist. Sie nimmt die Briefe ihres Vaters und fährt ein zweites Mal nach Hennigsdorf. Sie spricht, sie fragt, sie hört den Schülern zu. Und nach und nach löst sich das Unbehagen, enthüllen sich die Ängste der Schüler, die die Ängste ihrer Eltern sind, die zu Hause sitzen und schweigen.

Mit zwei Jungen und zwei Mädchen des John-Lennon-Gymnasiums bereitet sie die Verlegung von Stolpersteinen vor. Auf die Frage, warum die Schüler an diesem Projekt teilnehmen, antwortet einer von ihnen: „Ich mache das, weil ich mich gegen meine rechte Familie auflehnen möchte.“

Inge reist nach Russland, in der Tasche die Eheringe ihrer Eltern. 400 Kilometer von St. Petersburg entfernt, findet sie das Grab ihres Vaters auf einem Soldatenfriedhof. Sie steht eine Weile vor dem Kreuz mit dem Namen des Mannes, den sie kaum kannte. Dann bückt sie sich, gräbt ein kleines Loch, legt die Ringe hinein, schüttet das Loch wieder zu und geht. Tatjana Wulfert

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