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Berlin: Klaus Lang (Geb. 1938)

Musik, war das nicht Religion mit anderen Mitteln?

Im Frühjahr 1983 ging der Musikredakteur und Orchesterreferent des SFB Klaus Lang durch Leningrad. Er machte etwas, wozu er kaum begabt war, und vielleicht tat er es ohnehin nur seiner Frau zuliebe: Er schlenderte. Nichts erschreckte Klaus Lang so sehr wie der Schlenderschritt durchs Leben, die eigentümliche Ziellosigkeit von Menschen, die Schaufensterauslagen betrachten.

Immerhin bewahrten diese Ablenkungen des modernen Lebens in Leningrad eine löbliche Übersichtlichkeit, und natürlich betrat er den Plattenladen am Newski-Prospekt. Er kannte jedes Stück des Genres, das man neuerdings E-Musik nannte – eine Bezeichnung, bei der er immer noch lächeln musste –, aber in dieser Leningrader Musikalienhandlung war er wieder so verloren wie am Beginn seines Studiums: Er konnte nur raten, nicht lesen. Immerhin, an die Porträts der Komponisten und Dirigenten auf den Plattenhüllen durfte er sich halten. Und der dort unten, war das nicht Furtwängler? Bald bestand kein Zweifel mehr, worum es sich handelte: Wilhelm Furtwängler dirigiert Bruckners 5. Sinfonie, aufgenommen 1942 in der Alten Philharmonie Berlin. Was für ein Fund!, dachte Klaus Lang. Irritierend war nur: Es durfte diese Aufnahme gar nicht geben. Der Orchesterreferent überprüfte die Archive seines Gedächtnisses und kam jedesmal zum gleichen Ergebnis: Die gibt es gar nicht! Sie ist mit unzähligen anderen verloren, seit Kriegsende.

Und dann hörte er die Geisterplatte: Was für ein Klang! Das war also bereits möglich in den ersten Jahren der Stereofonie. Vielleicht war das der höchste Augenblick im Leben des Tonmeisters Klaus Lang.

Denn mit dem Tonmeister Klaus Lang fing alles an. Und wenige wissen so genau wie er, welch unabsehbar große Folgen scheinbar kleine Entdeckungen haben können.

Was wäre denn aus ihm geworden, hätte der Elfjährige nicht diesen seltsamen grauen Kasten auf dem Dachboden der Apotheke seiner Eltern gefunden? Er wischte den Staub von Jahrzehnten ab, öffnete ihn und hielt eine Geige in der Hand. Manchmal braucht man für die größten Entschlüsse des Lebens nur Augenblicke: Das ist mein Instrument! Auch der Streit mit dem Bruder, wer wann ans Klavier darf, war mit einem Mal zu Ende.

Geislingen an der Steige, nahe Stuttgart: Die Landschaft seiner Kindheit war sanft, eine Welt aus Hügeln, von denen keiner den Ehrgeiz besaß, den anderen zu überragen. Selbst der Krieg blieb hier lange ein Gerücht. Wo sonst sollte es leichter sein, sich einzufügen ins Dasein, still seinen Platz darin einzunehmen? Den Rest würde eine strenge Erziehung im Namen des Herrn bewirken, denn erst die Gottesfurcht, glaubten Klaus Langs Eltern, macht aus der Naturtatsache Kind einen Menschen. Aber das Unausdenkbare geschah: Unter ihrer kompromisslos protestantischen Obhut wuchs ein ebenso kompromissloser Atheist heran, der keine Vorgaben anerkennen würde, für nichts auf der Welt. Musik also wollte er studieren. Musik, war das nicht Religion mit anderen Mitteln?

Oder war sie, von einer schwäbischen Landapotheke aus gesehen, nicht vielmehr ein Ornament des Lebens, eine Verklärung des Feierabends, zumindest aber das, was nach der Arbeit kam? Konnte man aus der Musik eine Arbeit machen?

Ein Düsseldorfer und Berliner Studium sowie mehrere Zufälle später fand sich Klaus Lang in der denkbar exzentrischsten Lage wieder: Er war Erwin Piscators Tonmeister an der „Freien Volksbühne“, er war dafür verantwortlich, dass bei der Uraufführung von Rolf Hochhuths „Stellvertreter“ der Klang stimmte. Vormittags arbeitete er nun an seiner Promotion über die „Entwicklung der Stimme bei Knaben“, die Abende verbrachte er im Theater, bis zu dem Tag, als einige SFB-Rundfunk-Tonmeister bei ihm erschienen, die einen Theater-Tonmeister besichtigen wollten. Als sie wieder gingen, war er schon fast beim SFB. Das war 1970.

Er wusste nichts vom Radiomachen. Aber war es nicht großartig, dass er künftig entscheiden sollte, was die Berliner zum Frühstück, zum Mittag- und zum Abendessen hören würden, insofern es sich um Orchestermusik handelte? Er lernte, dass man die Hörer nicht mit Stockhausen wecken sollte; er lernte, was zusammenpasst; die ganze Musikgeschichte steckte bald in seinem großen Zettelkasten. Nebenbei reparierte er Bänder, von denen die Kollegen versehentlich die Anfänge gelöscht hatten, was geschah, wenn sie die Wiedergabe- und die Aufnahmetaste verwechselten. Der Tonmeister Klaus Lang suchte Aufnahmen mit verwandtem Gestus und Rauschgrad und klebte zusammen, was nicht zusammengehörte.

Und dann kam der „SFB-Radio-Frühling“. Redakteure an die Mikrofone! Der Archivar Klaus Lang war irritiert, aber er erkannte seine Chance. Er würde Musiker treffen, die er schon lange kennenlernen wollte, er würde sie nach Takten fragen, die ihn besonders interessierten und auf jede noch so entlegene Frage würden sie antworten müssen. 300 Porträts hat er gemacht, in über 30 Radio-Jahren. Zuletzt gehörten ihm zwei Stunden am Sonnabendabend ganz allein.

Dieser Sendeplatz war ein Privileg, er wusste es, und doch hatte er seine Live-Nachmittage in der Woche noch mehr geliebt. Autofahrer im Stau – was für ein Publikum! Nie ist der Mensch zeitloser, nie durchlässiger für Musik, als wenn er nach Hause will, aber nicht kann und seine Privat-Zeitrechnung der größeren der Musik übergeben muss. Ein Radiomoderator sieht sein Publikum gewöhnlich nicht, vielleicht würde er sonst erschrecken wie Klaus Lang, als er sich plötzlich den 20 000 gegenübersah. 1984 spielten die Philharmoniker zum ersten Mal live in der Waldbühne, und er war der Moderator. Es regnete, stürmte und es war kalt, aber er moderierte und moderierte. Doch der größte Auftritt seines Lebens war das noch immer nicht.

Der begann an jenem Leningrader Nachmittag 1983 auf dem Newski-Prospekt. Vier Jahre später besuchte er die Musikabteilung des Moskauer Rundfunks. Kein Redakteur aus dem nichtsozialistischen Ausland war vor ihm dort gewesen. Klaus Lang hatte zwei Fragen: Wo kommt die Furtwängler-Aufnahme her? Und: Gibt es noch mehr davon? Ein Vierteljahr später erreichte ihn ein Fernschreiben aus Moskau: 20 Bänder gefunden! Kurz darauf erschien ein Musik-Würfel mit zehn CDs, verlorenen und doch nicht verlorenen Aufnahmen aus frühen Rundfunktagen. 1991 folgte ein weiteres Fernschreiben: Noch mehr Aufnahmen gefunden, 1500 Stück! Was beide Seiten in strenger Sachlichkeit nur „die Aufnahmen“ oder „die Bänder“ nannten, hatte noch einen anderen Namen: „Beutekunst“. Keiner sprach ihn aus, es hätte die Rückerstattung erschwert.

Das Unglaubliche geschah. Wir schenken Ihnen das ganze Material, teilte Moskau mit. Nicht etwa als Kopie, sondern die Originale von 1500 Mitschnitten des Reichsrundfunks zwischen 1942 und 1944. Klaus Lang wusste nicht, wer von ihm glücklicher sein sollte, der Tonmeister oder der Musikredakteur.

Ob er damals schon ahnte, dass Wilhelm Furtwängler sein Lebensthema werden würde, zumal als RR? Ein RR ist ein Rundfunk-Rentner. Ein Schlenderer durch die Tage mit Pensionsanspruch? Unmöglich, Klaus Lang konnte das noch immer nicht, jetzt erst recht nicht. Seine Tage begannen, solange er denken konnte, stets gleich. Acht Uhr: Geige üben, der Rest des Tages: Schreibtisch. Buch um Buch entstand, über Mozarts Geburtshaus, über Furtwänglers Frau Elisabeth. Und immer wieder über Furtwängler selbst.

Die größten Finder sind solche, die nie gesucht haben. Oder sie finden, während sie etwas ganz anderes suchen. So begegnete Klaus Lang im Berliner Landesarchiv das Originalprotokoll des Entnazifizierungsverfahrens gegen Furtwängler. Es widerlegte ein erfolgreiches Theaterstück sowie den Kinofilm von István Szabó: Furtwängler war nie Hitlers Knecht. Das „rbb-Kulturradio“ sendete die Hörspielfassung dieses Protokolls zum Andenken an den früheren Redakteur.

Er war seit vielen Jahren krebskrank, aber im Grunde nur auf dem Papier. Erst in diesem Frühjahr sollte es ernster werden, mit Bestrahlung und allem, womit Menschen hoffen, Zeit zu gewinnen. Eine Karriere als Behandlungsbedürftiger lag vor ihm. War das nicht noch schlimmer als Schlendern? Zu einem selbstbestimmten Leben gehört auch die Bestimmung über sein Ende, glaubte Klaus Lang. Entscheiden, wann es Zeit ist zu gehen. Die Eskimos, sagt man, können das. Er hätte seine Familie, seine Freunde so gern geschont und vermochte es doch nicht. Seine Frau fand den Brief im Flur: „Der Eskimo ist gegangen.“ Kerstin Decker

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