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Polizisten stehen vor dem Haus Rigaer Straße 94 am 17.01.2016 in Berlin-Friedrichshain.

© dpa

Polizeieinsatz in der Rigaer Straße in Berlin: "Frank Henkel ist eine Gefahr für Sicherheit und Ordnung"

Der Einsatz in der Rigaer Straße war maßlos, seine Rechtsgrundlage zweifelhaft. Einen Innensenator, der solche Aktionen veranlasst, braucht kein Mensch. Ein Gastkommentar.

Ein Kommentar von Christopher Lauer

Am 13. Januar 2016 beginnt die Berliner Polizei um 20:50 Uhr mit einer „Begehung“ der Rigaer Str. 94. Es werden hierzu 550 Beamte und Beamtinnen eingesetzt, davon 200 direkt am Haus, die Polizisten werden von einem Spezialeinsatzkommando und einem Hubschrauber unterstützt. Grund der „Begehung“ war, dass man in Keller, Flur, Hof und Dachboden des Hauses „gefährliche Gegenstände“ sicherstellen wollte. Um 0:30 Uhr präsentiert die Polizei via Twitter (!) stolz ihren Fund. Auf vier Bildern zu sehen ist: Gerümpel. Eine Kiste voller Nägel, Bauzäune, ein Einkaufswagen mit Pflastersteinen und ein Sammelsurium aus Feuerlöschern, Gasflaschen und Metallstangen. Wüsste man es nicht besser, man würde denken, die Polizei hat gerade eine Razzia bei den Ludolfs durchgeführt. Doch es waren nicht die Ludolfs, die „Begehung“ fand in einem links-alternativen Hausprojekt in Friedrichshain statt.

Das ist natürlich nur die halbe Geschichte.

Um 12:00 Uhr mittags, also acht Stunden und 50 Minuten vor der „Begehung“, wird laut Darstellung der Polizei ein 52-jähriger Kontaktbereichsbeamter des Abschnitts 51 beim Ausstellen eines Knöllchens von einer vermummten Person angesprochen. Der Kontaktbereichsbeamte verlangte, dass sich die vermummte Person ausweist, in diesem Moment erscheinen zwei weitere Männer und eine Frau, sie attackieren den Polizisten, dieser geht zu Boden, sie treten ihn, flüchten sich dann in das Haus der Rigaer Str. 94. Nach der Attacke konnte der Beamte im Dienst verbleiben. Soweit die Polizeidarstellung.

Der Fall scheint zumindest für die Polizei und die CDU klar: Sogenannte „Linksextremisten“ überfallen an der Rigaer Straße einen wehrlosen Polizisten und verstecken sich dann in einem Rückzugsort der Szene. Leider, wie so oft im Leben, ist gar nichts klar. Denn es gibt zur Darstellung des Polizisten mittlerweile Zeugenaussagen, die den Tathergang anders schildern, nach einigen Darstellungen soll die Gewalt vom Polizisten ausgegangen sein, in der "Berliner Zeitung" wird der Besitzer einer Bäckerei in unmittelbarer Nähe zum Tatort mit den Worten „Verprügelt wurde der (Kontaktbereichsbeamte) nicht, eher geschubst“ zitiert.

Gewalt ist absolut indiskutabel, aber im Rechtsstaat muss man sich auch an Spielregeln halten

Unabhängig davon, wie es tatsächlich abgelaufen ist, Gewalt ist natürlich absolut indiskutabel. Sollte der Kontaktbereichsbeamte tatsächlich so wie von der Polizei dargestellt angegriffen worden sein, müssen die Täter und Täterinnen ermittelt und verurteilt werden. Ich selbst habe 2014 bei der Berliner Polizei hospitiert und weiß, welchem Risiko sich die Beamten täglich aussetzen, wie es sich anfühlt, wenn man zur Arbeit eine schuss- und stichsichere Weste tragen muss und dadurch immer wieder daran erinnert wird, wie lebensgefährlich der Polizeijob sein kann. Als Politiker, der regelmäßig Morddrohungen erhält, kann ich sehr gut nachvollziehen, wie man sich als Zielscheibe fühlt. Nichtsdestotrotz muss man sich im neuerdings so viel beschworenen Rechtsstaat an einige Spielregeln halten.

Mit dem Gewaltmonopol des Staates kommt auch die Verpflichtung, diese Befugnisse verhältnismäßig einzusetzen. Die unklare Gesamtsituation hinderte Innensenator Frank Henkel natürlich nicht daran, eine markige Pressemitteilung rauszugeben, in der er ankündigt, diesen „neue(n) Eskalationsversuch der linksextremen Szene“ nicht „unbeantwortet zu lassen“. Diese Antwort „des Rechtsstaates“ also war die „Begehung“ der Rigaer Str. 94 mit insgesamt 550 Polizistinnen und Polizisten. Auf meine Frage in der letzten Plenarsitzung, welche Tatsachen dafür sprechen, dass es sich bei den mutmaßlichen Tätern um Linksextremisten handelt, antwortete der Senator sinngemäß, das ergebe sich daraus, dass sie in das Hausprojekt der Rigaer Str. 94 geflohen seien.

Die politische Zuordnung der Täter findet also allein aufgrund der Örtlichkeit der Tat und des mutmaßlichen Fluchtorts statt. Mutmaßlicher Fluchtort deswegen, weil die Distanz zwischen Tatort und Fluchtort 60 Meter sind. Eine bemerkenswerte Leistung des grade überwältigten Polizeibeamten, auf diese Distanz ermitteln zu können, in welchen Hauseingang die mutmaßlichen Täter genau geflüchtet sind. Ob es sich bei einem der mutmaßlichen Täter möglicherweise um den Fahrzeughalter des Autos handelt, das vom Kontaktbereichsbeamten ein Knöllchen bekam, klärte die Polizei meines Wissens nicht.

Auch eine Polizei steht nicht außerhalb des Staates. Sie ist ein wichtiger Teil eben Jenes und hat damit eine besondere Verantwortung. Abwägen ja, aber innerhalb der geltenden Rechtslage.

schreibt NutzerIn akula

Interessant ist die Frage, auf welcher Rechtsgrundlage die Polizei eigentlich diese „Begehung“ durchgeführt hat. Auf meine Nachfrage im Plenum antwortete Henkel: §17 des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG Berlin). Das ist die Generalklausel zur Gefahrenabwehr. Das heißt, die Polizei hat laut Henkel die Rigaer Str. 94 nicht im Rahmen der Strafverfolgung betreten, nicht also um der mutmaßlichen Täter des Angriffes habhaft zu werden, sondern um eine Gefahr abzuwehren. Deswegen betonte die Polizei auch mehrfach, man würde jetzt Flur, Keller, Dachboden und Hof des Hauses begehen, um nach gefährlichen Gegenständen zu suchen.

Der Besitz einer Schrottsammlung ist nicht strafbar

Unter einem gefährlichen Gegenstand stellt sich der Laie vielleicht ein besonders großes Messer, eine Pistole oder einen Sprengsatz vor. Juristisch ist ein gefährlicher Gegenstand aber alles, mit dem man einen Menschen verletzen kann. Benutzt man bei einer Schlägerei ein Glas oder eine Flasche zum Schlagen, wird aus der Körperverletzung automatisch eine gefährliche Körperverletzung. Das bedeutet, so ziemlich jeder Gegenstand kann ein gefährlicher Gegenstand sein. Würde die Polizei meine Wohnung „begehen“, fände sie dort auch gefährliche Gegenstände wie zum Beispiel Messer, Gläser und Pfannen in meiner Küche oder Chemikalien in Form von Putzmitteln im Badezimmer. Die Polizei fände in jeder Wohnung gefährliche Gegenstände.

Umso erstaunlicher ist die bereits erwähnte Ausbeute der Polizei: Steine, Bauzäune, Feuerlöscher, Propangasflaschen, Metallstangen, Nägel. Man kann darüber streiten, ob es jetzt ästhetisch so sinnvoll ist, im Hof Gerümpel zu lagern, es ist auf jeden Fall nicht illegal, einen Einkaufswagen voll Pflastersteine in den Hof zu stellen. Die Polizei oder eher ängstliche Menschen können natürlich vermuten, dass diese Gegenstände dazu gedacht waren, Straftaten zu begehen, nur: Hierfür gibt es keinen einzigen Beweis. Es gehört zum momentan inflationär herangezogenen Rechtsstaat dazu, dass erstens die Unschuldsvermutung gilt und zweitens nur das bestraft wird, was nachgewiesen werden kann.

Der Besitz einer Schrottsammlung ist jedenfalls nicht strafbar. Sollte es konkrete Pläne gegeben haben, die Schrottsammlung für eine Straftat zu benutzen, dann muss halt ein Gericht entscheiden, ob und wie konkret die Pläne waren und wie das zu bestrafen ist.

Wenn die Polizei die Rigaer Straße 94 also zur Gefahrenabwehr „beging“, dann ist die Frage, was eine „Begehung“ rechtlich sein soll. Das ASOG kennt die „Begehung“ als polizeiliche Maßnahme nicht. Auch zu klären ist, welche konkrete Gefahr überhaupt vorgelegen haben soll. Denn Grundlage jedes polizeilichen Handelns zur Gefahrenabwehr ist die Gefahr. Eine Gefahr ist die „Hinreichende Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines nicht bloß geringfügigen Schadens an den Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit“.

Der Einsatz sollte eine Gefahr abwehren - aber welche Gefahr war das?

Welche Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit waren denn um 20:50 Uhr bedroht? Da es keinen Notruf gab, welche konkrete Gefahr rechtfertigte den Einsatz von 550 Polizisten? Nochmal: Die Polizei und Frank Henkel betonten mehrfach, dass der Einsatz nicht dazu diente, der mutmaßlichen Täter des Angriffs auf den Polizisten habhaft zu werden. Der Einsatz sollte eine Gefahr abwehren.

Wurde die Rigaer Str. 94 etwa nur deswegen gefährlich, weil ein am Boden liegender Polizeibeamter aus 60 Metern Entfernung sah, wie sich vier Tatverdächtige in das Haus flüchten? Noch absurder ist, dass die Polizei das Gerümpel und den gesamten Kohlevorrat des Hausprojektes sicher stellte. Das ist nach §17 ASOG aber nicht möglich. Hier käme §38 Nummer 1 ASOG in Betracht, doch der führt unmissverständlich aus, dass die Polizei nur dann Gegenstände sicherstellen darf, wenn von ihnen eine gegenwärtige Gefahr ausgeht.

Welche Gefahr ging denn vom sichergestellten Gerümpel, von den Heizmitteln aus?

Mittlerweile wurde auch bekannt, dass die Polizei Wohnungstüren aufbrach und Wohnungen betrat. Das ist ganz klar rechtswidrig. Laut Polizei hätten die Beamten die Wohnungstüren mit Kellertüren verwechselt. Warum die Polizei der Meinung war, Keller aufbrechen zu müssen, obwohl es in der Rechtssprechung unstrittig ist, dass diese zum besonders geschützten Wohnraum gehören, wird sie am 25. Januar im Innenausschuss erklären müssen.

Bemerkenswert ist die öffentliche Debatte um die Polizeiaktion: Henkel spricht wie aufgeputscht im Plenum von einer „Übermacht“, die in einer „feigen Attacke“ einen „wehrlosen“ Polizisten angegriffen hätte. Henkel verlangt von allen, die Tat nochmal zu verurteilen, obwohl es mehrfache Beschlüsse des Abgeordnetenhauses gibt, dass wir das alle tun. Das ist die beliebte konservative Taktik, allen anderen vorzuwerfen, sie würden Gewalt gegen die Polizei insgeheim billigen oder begrüßen. Das ist Wahlkampf der plattesten Sorte und perfide Verleumdung zugleich.

Auch die Presse geht ab

Aber auch die Presse geht ab. Statt zu versuchen, Licht in die unklare Situation zu bringen, wird der Einsatz überwiegend positiv aufgefasst und Kritiker werden durch die Kommentatoren beschimpft. Der Polizeijournalist des Tagesspiegels kann sich kaum noch zurückhalten in seiner Begeisterung und bezeichnet die Kritik der Opposition am Einsatz als „Diffamierung“. Dass über 500 Polizisten eingesetzt wurden, quittiert er lapidar mit einem „Egal“. Die Kommentatorin der Morgenpost macht sich nicht mal die Mühe, Quellen zu verifizieren, und legt mir ein Zitat in den Mund, das gar nicht gefallen ist. Dafür bekomme ich ein „sorry, da wurde mir was falsch übermittelt“ und eine Änderung der Online-Beiträge, die Printleser dürfen sich weiterhin über ein nie gefallenes Zitat von mir wundern, ich hätte dem Kontaktbereichsbeamten vorgeworfen, er sei ja selbst schuld, wenn er verprügelt wird.

Wenn Journalismus, nur weil gut und böse klar zu sein scheinen, so auf die Sorgfaltspflicht verzichtet wie in den letzten Tagen, dann tut er sich selbst keinen Gefallen. Persönlich irritiert bin ich über die Beleidigung der Diffamierung. In fünf Jahren Parlamentszugehörigkeit wurde die Wahrnehmung meines verfassungsmäßigen Kontrollauftrags noch nie auf eine solche Art bezeichnet.

Weder der Senat noch die Polizei können es sich erlauben, dass der Vorwurf im Raum steht, die Polizei ließe sich politisch instrumentalisieren. Danach sieht es im Moment aber aus. Frank Henkel hat zum Ende seiner Amtszeit außer einem Dienstreiserekord nichts vorzuweisen. Die Kriminalität ist höher, die Verwaltung funktioniert schlechter, in der Flüchtlingsfrage komplettes Versagen, außer der Forderung nach mehr Videoüberwachung absolut keine sicherheitspolitischen Konzepte. Da ist eine Machtdemonstration in der Rigaer Straße eine willkommene öffentlichkeitswirksame Aktion im Wahlkampfjahr.

Wir sollten künftig die linke Szene sehr dicht an unsere Brust drücken und Ihnen klar vermitteln: Dehnt Eure Räume, aber geht nicht über die Grenze. Tut ihr es doch, stehen wir Euch sofort auf den Füßen. Wie bei den Rockern, wie bei den Rechten, wie bei den Dealern.

schreibt NutzerIn polizeiphilosoph

Was tut Frank Henkel eigentlich gegen die organisierte Schwerstkriminalität?

Berlin ist reich an organisierter Schwerstkriminalität. Drogenhandel, Menschenhandel, Hells Angels, Bandidos, arabischstämmige Großfamilien und Türstehermafia, um nur einige zu nennen. Ging der Möchtegern-Law-and-Order-Senator Henkel eines dieser Probleme in seiner Amtszeit an? Wurde gegen eine der genannten Organisationen ähnlich massiv vorgegangen wie jetzt gegen die Bewohner der Rigaer Straße? Als ich 2014 bei der Polizei hospitierte, sagte mir ein Polizist auf Streife, dass in dem Haus, an dem wir gerade vorbeifahren, der Drogenhandel im Kiez organisiert wird. Verwundert fragte ich, warum die Polizei da nichts machen würde. Die Antwort war, man müsse erst mal einen Staatsanwalt und einen Richter finden, die überhaupt bereit wären, einen Durchsuchungsbeschluss zu beantragen bzw. zu erlassen und bei der dünnen Personaldecke wäre es nicht möglich, das alles gerichtsfest zu ermitteln.

Die Berliner Polizei kennt ihre Pappenheimer und hält sie nur noch mühsam in Schach. In dieser Situation hat Frank Henkel die Zeit und die Nerven, die Polizei Gerümpel in der Rigaer Straße und Umgebung einsammeln zu lassen. Der Einsatz dauert weiter an, wie man am Sonntag wieder gesehen hat.

Ein Merkmal des Rechtsstaates gegenüber der Diktatur oder Anarchie ist es ja, dass man vor staatlicher Willkür sicher ist. Der Einsatz in der Rigaer war aber nichts anderes als das. Er war absolut unverhältnismäßig und einer Demokratie, eines Rechtsstaates unwürdig. Die politische Verantwortung hierfür trägt Frank Henkel. Einen Senator, der solche Einsätze veranlasst und befürwortet, braucht aber kein Mensch. Ein solcher Senator ist nämlich eine tatsächliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

Christopher Lauer (parteilos) ist Berliner Innenpolitiker und Mitglied der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus.

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