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Immer mehr Fahrräder, immer größere Autos - die Berliner Innenstadt wird es eng.

© Doris Spiekermann-Klaas

Stadtentwicklung: Es wird eng in Berlin

Die Autos werden größer, die Radler anspruchsvoller, die Fußgänger mehr. Man müsste die Häuser auseinander schieben, um es allen recht zu machen. Eine Geschichte über den Kampf um den Platz in der Stadt.

Berlin, werktags, eine Einbahnstraße in Mitte. Ein Autofahrer will rückwärts einparken, aber die anderen lassen ihm keine Chance: Radler huschen so dicht vorbei, dass er die Lenkung nicht einschlagen kann. Der Hintermann ist zu dicht aufgefahren. Irgendwer hupt. Und hinter einem Wohnungsfenster kramt ein Rentner bereits die Nummer des Ordnungsamtes hervor, weil die vermeintliche Parklücke sich vor einem abgesenkten Bordstein befindet und der alte Mann es leid ist, dass ihm dauernd jemand den Weg versperrt, auf den er mit seinem Rollator angewiesen ist.

Der Kampf um den Platz ist so alt wie die Stadt. Am Anfang waren ein paar Hütten um die Spreeinsel, am vorläufigen Ende stehen die vor einigen Tagen verhängten Halteverbote in der Spandauer Vorstadt nördlich des Hackeschen Marktes, etwa in Mulack-, Rücker- und Gormannstraße. Der Bezirk Mitte hat sie auf Weisung des Senats montiert, weil die zugeparkten Straßen zu eng für Feuerwehr und Müllabfuhr geworden waren. Was auch daran liegt, dass Autos immer mehr zu Korpulenz neigen. So ist der aktuelle VW Golf 18 Zentimeter breiter und 55 Zentimeter länger als der erste von 1974. Das erklärt sowohl die Enge auf den Straßen als auch die Parkplatznot. Selbst wer irgendwann eine Klasse abgestiegen ist zum Polo, fährt jetzt ein größeres Auto als damals mit dem alten Golf.

Das Phänomen gilt für fast alle Hersteller und Modelle. Erst in allerjüngster Zeit beginnt sich der Trend abzuschwächen. Die automobile Adipositas verschärft die Kollision der Interessen, seit die politische Prioritätensetzung verstärkt auch andere Verkehrsteilnehmer bedenkt.

Laut Straßenverkehrsordnung dürfen Fahrzeuge bis zu 2,55 Meter breit sein - die aktuellen Busse der BVG reizen diesen Wert komplett aus - und müssen 50 Zentimeter seitliche Reserve haben. Macht 3,05 Meter minimale Fahrbahnbreite. Der ADAC hat ermittelt, dass mehr als zwei Drittel der heutigen Pkw die für maximal zwei Meter breite Autos erlaubten Überholspuren in Baustellen gar nicht benutzen dürften, weil sie inklusive Außenspiegel breiter sind. Und Autofahrer erleben, dass sie auf markierten Stellplätzen und in Parkhäusern oft kaum die Türen öffnen können. Auch das Ein- und Ausparken in den Gründerzeitvierteln von Wilmersdorf bis Prenzlauer Berg war, ob längs oder quer, schon mal einfacher.

"Die breiter gewordenen Autos sind ein Problem", bestätigt Mittes Baustadtrat Carsten Spallek (CDU) und schließt die rhetorische Frage an, "ob man Geländewagen in der Spandauer Vorstadt überhaupt braucht." Zumal die Zweitonner auch Trottoirs ruinieren, weshalb die Alternative, halbseitiges Gehwegparken, nicht infrage kam. Zudem ist der Platz für Fußgänger knapp.

Grob überschlagen bedecken die knapp 1,2 Millionen Berliner Pkw jetzt einen Quadratkilometer mehr als zur Wendezeit - mehr als die Fläche des Britzer Gartens. Obwohl sowohl die Zahl der Berliner Pkw als auch die Gesamtzahl der Fahrzeuge, nach einem sprunghaften Anstieg nach der Wende, in den vergangenen Jahren leicht rückläufig waren: Nie war mehr Blech in der Stadt. Allerdings stehen viele der neuen großen Karossen in Parkhäusern oder drängen sich in den Großsiedlungen der östlichen Bezirke. Während dort die Autodichte nach der Wende schlagartig zunahm, füllten sich die Seitenstreifen in vielen Altbauvierteln so allmählich, dass der Unterschied erst beim Betrachten ganz alter Fotos auffällt: Wo in den 1960ern der Blick auf Parterre und spielende Kinder frei war, wird er jetzt von Autos (Höher geworden sind sie auch!) und Lieferwagen verdeckt.

Da sich die Häuser nicht auseinander schieben lassen, wird zentimeterweise um den Straßenraum gefeilscht. Ein Stadtspaziergang mit gezücktem Zollstock entlarvt manchen Murks. So sind selbst am enorm frequentierten Potsdamer Platz die nachwendischen Radwege auf den ebenfalls arg knapp geratenen Gehwegen inklusive Seitenlinie nur 1,47 Meter breit, obwohl die StVO-Vorschrift 1,50 Meter als Minimum verlangt und "möglichst 2,0 Meter" fordert. Für Fußgängerwege gibt es keine vergleichbare Standardregel. Aber dass es manchmal etwas mehr sein dürfte, spürt jeder, der schnellen Schrittes durch die Innenstadt läuft. Dabei ist die in Berlin bekanntermaßen luftig, wenn man sie mit der Enge vor allem in südlicher gelegenen Metropolen vergleicht.

Der Kampf um den Platz ist alt.

Weiter durch die Berliner Mitte. Auf dem Friedrichswerder neben dem Auswärtigen Amt war sogar in zentralster Lage noch Platz für Gärten, auch wenn sie kaum größer als ein Badetuch sind. Auf der Luisenstraße zwischen Reichstag und Charité wiederum scheiterte der Versuch, es allen recht zu machen: Die Autos sollen hier in einer 1,55 Meter schmalen Spur rechts der weißen Linie parken. Theoretisch also ein Seitenstreifen exklusiv für Trabis und Pandas, aber praktisch stehen die üblichen, breiteren Autos hier - mit der linken Flanke mitten in der Fahrradspur. Die ist hier immerhin breiter als jener wohl eher symbolisch gemeinte 68-Zentimeter-Wurm in der Baustelle vor dem ARD-Hauptstadtstudio.

Umgekehrte Prioritätensetzung lässt sich in der Steglitzer Schlossstraße sowie in der Reichsstraße in Westend besichtigen: Breite Radstreifen auf Kosten einer Fahrspur verdrießen die Autofahrer - und ermöglichen Radlern erstmals, gleichzeitig zügig, sicher und legal voranzukommen. Vorher waren sie entweder im Autogetümmel unterwegs oder wilderten auf den Gehwegen.

Ephraim Gothe (SPD) kennt den Kampf um den Platz aus seiner Zeit als Baustadtrat in Mitte und erlebt ihn jetzt als Staatssekretär für Stadtentwicklung beim Senat. Seit etwa 15 Jahren beobachtet er einen "zunehmenden Nutzungsdruck auf die öffentlichen Räume" - und freut sich, dass die Leute nicht mehr nur rausgehen, um von A nach B zu gelangen, sondern auch für Sport, Musik und Feste. Dass möglichst breite Straßen die Stadt nicht automatisch besser machen, belegt für Gothe das Beispiel der Karl-Marx-Allee zwischen Alex und Strausberger Platz: Grünstreifen, Gehwege, Radwege, acht Autospuren samt Parkplatz in der Mitte. Die Häuser stehen fast 100 Meter auseinander - und bilden eine Schneise, die Fußgänger zu Ameisen schrumpft. Dagegen findet Gothe Orte wie die Kreuzung von Schönhauser Allee und Danziger Straße zwar "für alle ein bisschen zu eng", aber zugleich - ausweislich des Getümmels bei Tag wie bei Nacht - eben auch attraktiv. Da möchten auch die Gastronomen profitieren - und stellen Stühle raus, so dass es noch ein bisschen enger wird.

Gothe beschreibt Stadtentwicklung so, "dass das veränderte Verhalten der Stadtgesellschaft nachgebaut wird" und nennt exemplarisch die Turmstraße in Moabit: Die im Stil der 1960er autogerecht ausgebaute Achse "holen wir jetzt zurück und teilen den Straßenraum neu auf": Breitere Gehwege, Radstreifen, barrierefreie Querungshilfen für Fußgänger, "und am Ende kommt sogar noch eine Straßenbahn durch". Eine Straßenbahn, die vor der Massenmotorisierung schon einmal in ganz Berlin selbstverständlich war, möchte man hinzufügen. Der Kampf um den Platz ist alt.

Wie alt, zeigen die Flächennutzungspläne seit dem 19. Jahrhundert: Bereits die Baupolizeiordnung von 1897 begrenzte die Nutzung von Grundstücken. Der Bauzonenplan von 1925 setzte weitere Limits, ließ die Stadt vom Zentrum zu den Rändern lichter werden, schützte Wald und Freiflächen. Wie sehr die seitdem dennoch zusammengeschnurrt sind, lässt sich nur eingeschränkt ermitteln. Laut Statistischem Jahrbuch von 1925 waren von 878 Quadratkilometern Stadtgebiet damals 134 bebaut - bei vier Millionen Einwohnern, wobei ein Durchschnittshaushalt damals aus 3,2 Personen bestand. Jetzt sind es 1,7 Personen. Der heutige Otto-Normalberliner wohnt auf 39 Quadratmetern. Oder meist auf etwas mehr, sofern er allein lebt, denn auch Singles verzichten kaum auf Bad und Küche. Wären die Häuser über die Jahre nicht höher geworden und hätte der Mauerfall nicht so viel innerstädtisches braches Bauland hinterlassen, hätte der Trend zur Single-Hauptstadt die Wucherung Berlins wohl massiv befördert.

Aktuell weist das Statistikamt 96 Quadratkilometer "bebaut versiegelte Fläche" auf - bei 3,5 Millionen Einwohnern. Ob tatsächlich weniger Fläche bebaut ist als 1925 oder ob damals anders gezählt wurde, lässt die Statistik offen. Die "unbebaut versiegelten Flächen" sind mehr als doppelt so groß, wobei allein die Fläche der Straßen fast so groß ist wie die, auf der Gebäude stehen.

In der Nachwendezeit ragt die Parkwerdung des Tempelhofer Feldes 2011 heraus: Auf einen Schlag wuchs die "Erholungsfläche" im Bezirk Tempelhof-Schöneberg um 54 Prozent (berlinweit um 3,5 Prozent), während die "Verkehrsfläche" des Bezirkes um ein Viertel schrumpfte. Eine Stromschnelle im langen, ruhigen Statistikfluss.

Sparsamer Umgang mit dem Platz ist ein Ziel des aktuellen Flächennutzungsplans, zumal "Landschaftsverbrauch" seit langem zu den Nebenwirkungen des urbanen Wachstums gehört. Die Lokale Agenda 21 legt fest, diesen Trend zu bremsen, und das Umweltbundesamt hat Grenzen definiert, wonach Berlin bis 2020 täglich (!) höchstens 8500 Quadratmeter Naturland "verbrauchen", also versiegeln oder bebauen darf. Nach Auskunft der Stadtentwicklungsverwaltung hat Berlin diesen Wert seit der Wende um 94 Prozent unterboten - und sich auf vorhandene Siedlungsgebiete konzentriert, statt auszufransen.

Daraus lässt sich schließen, dass es in der City noch etwas enger geworden ist. "Manchmal ging es um wenige Zentimeter", erinnert sich Gothe an die Zeit, in der er selbst noch mit den Anwohnern nördlich des Hackeschen Marktes um Parkverbote gefochten hat. "Ein harter Abwägungsprozess" sei das gewesen. Der jetzt vom Bezirk Mitte gefundene Kompromiss scheint ihm vernünftig: In der Linienstraße sind 90 Parkplätze für die Anwohner reserviert worden. Und in der Joachimstraße bleibt das Parken entgegen der ersten Planung beidseitig erlaubt. Weiße Linien grenzen die Buchten unübersehbar von der Fahrbahn ab. 3,10 Meter ist sie breit, sagt der Zollstock. Jenseits der Linien stehen die Autos so präzise aufgereiht wie sonst selten. Solange die Linien wirken, sind netto nur eine Handvoll Stellplätze weggefallen. Sollten aber die dicken Autos weiter zunehmen, beginnt der Kampf um den Platz bald von vorn.

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