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Berliner Lebensadern (12): Oderberger Straße: Wo Götterbäume wuchern

Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten. In unserer Serie folgen wir den Lebensadern Berlins. Wer in der Oderberger Straße wohnt, muss nicht mehr reisen. Weil die Welt zu ihm kommt.

Sie ist schön, weil sie so breit ist, aber es fällt gleich auf, dass es kaum noch normale Geschäfte gibt. Eine Glaserei, ein Waschsalon, ein Kopierladen und der Laden, in dem angeblich alles repariert werden kann. Ansonsten nur noch Mode und noch mal Mode. Wo bis vor kurzem noch eine Bäckerei war, ist jetzt ein Café, der Bioladen ist ein Restaurant, es gibt kein Geschäft mehr, in dem man Milch kaufen könnte. Dafür ausgelatschte Turnschuhe (erstaunlich teuer) und interessante Unterwäsche.

Die letzte Bastion der Normalität, ganz kunst- und modefrei, bildet die Feuerwache Oderberger Straße. Es soll die älteste Deutschlands sein. Seit 125 Jahren rückt die Feuerwehr von hier aus, vorbei an den Häusern, die bis auf eine Ausnahme mittlerweile alle saniert sind. Manche Fassade wurde auch schon zum zweiten Mal saniert. So steht sie da, die Straße, in Bonbonfarben und dem vor zehn Jahren so beliebten Gelb. Nur zwei Neubauten hat die Oderberger, beide sind erst in diesem Jahr fertig geworden, sehr zurückhaltend füllen sie die ehemalige Lücke neben dem Stadtbad.

Wer ist auf der Straße zu sehen? Morgens sind es Väter oder Mütter, mit dem Kind auf dem Weg in die Kita. Jogger auf dem Weg ins Cantian-Oval. Der ein oder andere, der trotz aller zur Schau gestellten Lässigkeit nicht verbergen kann, dass er ins Büro muss. Später rollen die Fahrradtouristengruppen an, die nervigen Straßenmusikanten, ganz selten kommt einmal jemand, der älter als 67 aussieht, über den Gehweg. Hipster- und Kinderwagenmaut hingegen würden große Einnahmen bringen.

Wer hier wohnt, wohnt mittendrin und muss nicht mehr verreisen. Es reicht, vor die Tür zu gehen, immer ist irgendwo Italienisch zu hören. Oder Spanisch. Oder Englisch. Je nach Tageszeit und Wochentag sind zwischen 40 und 90 Prozent der Passanten Touristen. Fühlt sich manchmal an, als wohnte man hier auf dem Montmartre, gleich neben Sacré Cœur.

Manche sagen, die Oderberger Straße sei ein Opfer ihres eigenen Erfolges. Und es gibt Anwohner, die davon träumen, der Name der Straße wäre über Nacht aus allen Berlin-Reiseführern aller Sprachen verschwunden. Aber wieso jammern? Wer über Touristen jammert, erinnert sich nicht daran, wie leer, kahl und unbenutzt die Stadt lange Jahre war. Wer aus Paris oder Barcelona kam, musste sich fragen: so eine große Stadt, aber kaum Menschen. Jetzt sind sie da. Und kommen genau aus den Ländern, die wir deutschen Reiseweltmeister über Jahrzehnte hinweg touristisch belagert haben.

Was suchen die Besucher hier? Die Street Art, die hier mittlerweile restauriert wird? Die alten DDR-Laternen mit dem Pfahl aus Zement? Die Waschbetonelemente, die unmotiviert auf den Gehwegen stehen, Gehwege, die hier so breit sind wie anderswo die ganze Straße? Mit dem Stadtplan in der Hand oder ohne schauen sie in die Höhe, auf die Häuser und auf das Pflaster aus den Granitplatten, die noch Einschusslöcher haben. Denkmalschützer sollten Abgüsse herstellen, um die zu bewahren.

Die Oderberger ist, man muss es zugeben, eine Fressmeile geworden. Vom Morgenkaffee im Barista (bester Kaffee) über das Mittagessen bei Schädel und Sattler am Stadtbad (neu, nett und gut), in der Kiezkantine (altbewährt, günstig und fast immer gut), oder im Restaurant Teigwaren. Man muss hier nicht verhungern, und kann abends gleich in der Oderquelle (gute Küche) oder beim Thai Ecke Eberswalder (schlicht) weiteressen. Oder, oder, oder. Es gibt noch einige andere Möglichkeiten, sich den Bauch vollzuschlagen.

Warum ist die Straße so schön? Ach ja, weil sie so großzügig angelegt, so breit ist und scheinbar in den Himmel führt, der abends Richtung Mauerpark oft so schön rot leuchtet. Welche Ironie, dass es da früher nicht weiterging. Bis vor bald 21 Jahren war die Straße an ihrem Ende ja zugemauert. In den letzten Häusern vor der Grenze, so wird es überliefert, wohnten damals nur Stasiangehörige und Hundertprozentige. Von denen keine Spur mehr. Und von den meisten anderen, die noch vor der Maueröffnung hier gewohnt haben, auch nicht. Bei Umzügen fällt es schon länger auf: Herausgetragen wird studentisches Mobiliar und auf Pritschen von Robben & Wientjes verladen. Zieht hingegen jemand ein, arbeiten da meist professionelle Umzugsunternehmen mit Absperrungen und Außenaufzügen, die gegen Transportschäden aufwendig verpackte Möbelstücke in die Dachgeschosse liften.

In diesen Wochen ist die Oderberger eine Baustelle. Leitungen, Gehwege und die Fahrbahn werden erneuert – dabei sollte eigentlich alles bleiben, wie es war. Es gab Auseinandersetzungen zwischen einer Anwohnerinitiative und dem Bezirksamt, schließlich hat man sich geeinigt: So viel wie möglich des teils selbst gepflanzten Grüns soll erhalten bleiben. Die Flora der Oderberger ist überraschend vielfältig, es gibt die großen Platanen auf der Stadtbadseite und genau 58 Rotdorne auf der Feuerwehrseite, die im Frühling in großen roten Kugeln blühen. Eine „Grünflächenbestandsaufnahme“ hat vor wenigen Jahren insgesamt 219 Anpflanzungen kartografiert, noch immer lassen sich in Hochbeeten, Kübeln und an Hauswänden Korkenzieherweiden, Efeu, Hagebuttensträucher, Lavendel und wildwuchernde Götterbäume finden.

Die Anwohner der Oderberger, das hat Tradition, organisieren sich. Schon in den späten achtziger Jahren, noch zu DDR-Zeiten, hat man den Abriss der Zeilenbebauung verhindert. Später wurden der Hirschhof angelegt, Baumscheiben bepflanzt, Bänke gebaut, teils innovative Sitzgelegenheiten geschaffen und, sehr deutsch, kleine Erklärschildchen an die Pflanzentröge geklebt. Und es gibt Termine, an denen die Bewohner sich zu Aufräumaktionen treffen.

Bis vor ein paar Jahren existierte in Prenzlauer Berg das Feinbild des zugezogenen Westdeutschen – erinnert sei an die ironischen Plakataktionen kurz vor Weihnachten, wie die, die gute Heimfahrt in Städte wie Koblenz wünschte. Dieser Konflikt hat sich weitgehend erledigt. Mittlerweile werden die vor zehn oder 15 Jahren zugezogenen Westdeutschen, die einstigen Vorboten der Gentrifizierung, selbst verdrängt. Die zweifelhafte Zukunft, fast schon Gegenwart, ist zu sehen, wo Oderberger und Schwedter sich treffen: der furchtbare lilafarbene Schuhkarton, der für die Wohnanlage Marthashof, die Luxushasenställe in der Schwedter Straße, wirbt.

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