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Schillerpromenade in Neukölln: Mitte der neunziger Jahre war die Schillerpromenade tot. Doch das Quartiersmanagement nahm seine Arbeit auf, im Jahr 2000 wurde sie verschönert.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berliner Lebensadern (8): Schillerpromenade: Göttin im Jogginganzug

Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten: In der Neuköllner Schillerpromenade mischen sich Trinker, Künstler und Arbeiter.

Ein Taxi fährt mich durch die Schillerpromenade, ich bin auf dem Weg zu einer Wohnungsbesichtigung und spät dran. Altbauten reihen sich nahtlos aneinander, Platanen, ein breiter Mittelstreifen mit Parkbänken, so viel Platz, so viel Grün, ich bin begeistert. „Ist das schön hier, so italienisch!“, sage ich zum Taxifahrer. Der dreht sich zu mir um, starrt mich an und schweigt. Es ist das Jahr 1996, ich bin seit einem halben Jahr in Berlin und weiß über Neukölln nur, dass es direkt neben Kreuzberg liegt.

Die Wohnung ist frisch renoviert und hell und für eine Studentin, die schon in Hamburg und Heidelberg Miete zahlen musste, ein Traum. Der Morgen nach meinem Einzug beginnt mit einem Schreckmoment: lautes Dröhnen, dann verdunkelt die Tragfläche eines Flugzeuges mein Wohnzimmerfenster. Die Schillerpromenade verläuft parallel zum Flughafen Tempelhof, und mein Haus liegt in einer der Einflugschneisen.

Seit der Flugbetrieb eingestellt wurde, stört nichts mehr die Ruhe der Schillerpromenade. Auf den Parkbänken sitzen ein paar Männer mit Bierflaschen in den Händen. Ab und an fährt ein Auto die gepflasterte Straße entlang. Die wenigen Fußgänger sind Anwohner oder Kneipenbesucher, die es in den „Bierbaum“ oder das „Promenadeneck“ zieht. Geschäfte, die Kunden in die Gegend locken könnten, gibt es kaum. Am Herrfurthplatz, der die Schillerpromenade in zwei Teile teilt, ist der Edeka-Markt dank der mangelnden Konkurrenz immer gut besucht. Wer hier nicht einkaufen will, geht in die nahe Hermannstraße und findet dort unzählige Discounter und 1-Euro-Shops.

Für Frau Grimm, meine Nachbarin, war die Hermannstraße unerreichbar. Sie schaffte es gerade mal bis zu den Briefkästen. Als ich sie kennenlernte, war sie 75 Jahre alt. Sie konnte kaum noch sehen und ihre kurzen Haare hatten schwarze Spitzen, weil sie sich beim Anfeuern zu nah an ihren Kohleofen beugte. Frau Grimm wohnte seit ihrer Hochzeit in den späten fünfziger Jahren im Hinterhaus, Parterre links. Sie war lange Zeit die Hauswartsfrau und hatte auch später, längst in Rente, alles unter Kontrolle. Ihr Fenster zum Hof stand immer offen und sie lehnte am Fensterbrett, rauchend, eine Tafel Schokolade und eine Packung Billigzigaretten neben sich, damit köderte sie die Hausbewohner und verführte sie zu einem Schwätzchen.

So war Frau Grimm stets bestens informiert und brachte Nachbarn miteinander ins Gespräch, die sich sonst vielleicht aus dem Weg gegangen wären: Bodo, den Biker in Lederkluft, Stammkunde im „Bierbaum“, der meine Nähmaschine reparierte. Steffen, den jungen Schriftsteller mit Baskenmütze und schwarzem Anzug. Und Zsazsa Regentrup, Ende vierzig, aus Rumänien, die als Schichtarbeiterin Lippenstifte montierte. Als Frau Grimm starb, gingen wir alle auf ihre Beerdigung. Später fiel uns auf, welche Spuren sie auf ihrem täglichen Weg zu den Briefkästen hinterlassen hatte: eine rußig-graue Linie an der Wand des Treppenhauses, dort, wo sie sich immer mit ihrer Hand abstützte.

Die Häuser der Schillerpromenade wurden Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut. Gedacht waren sie für Besserverdienende. Eingezogen sind vor allem Arbeiter, auch weil der Fluglärm seit der Eröffnung des Zentralflughafens im Jahr 1923 die Mieten drückte. So lange die Arbeiter Arbeit hatten, gab es Geld im Kiez. Nicht viel, aber genug für den täglichen Bedarf und das eine oder andere Vergnügen. In den letzten zwanzig Jahren stieg die Arbeitslosigkeit, die Einkommen sanken und mit dem Geld verschwanden Geschäfte und Lokale und anscheinend auch das öffentliche Leben. Als ich Mitte der neunziger Jahre herzog, war die Schillerpromenade tot: leere Spielplätze, der Wochenmarkt am Herrfurthplatz wurde wegen fehlender Kundschaft eingestellt, es gab keine Straßencafés. Mich störte das nicht. Ich sah die Armut, aber sie ging mich nichts an. Der Müll und die billigen Trinkerkneipen waren nur die Kulissen, die meinem Studentendasein das gewisse Etwas gaben. Ich fühlte mich wohl. Selbst im Jogginganzug kam ich mir vor wie eine Göttin. Im Café Xenzi in der Selchower Straße traf ich nette Leute, die den ganzen Tag Zeit zum Kaffeetrinken hatten. Ich studiere seit zehn Jahren. Du auch? Toll! Konkurrenz und Ehrgeiz gab’s in anderen Bezirken, Neukölln war mein Erholungsgebiet.

Doch die Zeiten ändern sich. Das Quartiersmanagement nimmt seine Arbeit auf, im Jahr 2000 wird die Promenade verschönert und in die neuen Gebäude der Genezarethkirche am Herrfurthplatz zieht das Café Selig ein. Langsam werden die Bewohner des Schillerkiezes sichtbar: Alternative mit Dreadlocks, fesche Künstler aus dem Schillerpalais, die Türkin mit Kopftuch, der tätowierte Proll. Sie sitzen in der Sonne und trinken Latte macchiato. Und ihre Kinder spielen auf den neu gestalteten Spielplätzen.

Ich ziehe in ein anderes Haus, in eine größere Wohnung. Nachts sitze ich, hochschwanger und heulend, im Ehebett. Technomusik wummert durch die Wände. Mein Mann klingelt bei unserem Nachbarn, der macht die Tür auf und sagt: „Du bist Künstler, oder? Das seh ich an der Brille! Was willst du eigentlich hier? Ich wohne seit zwanzig Jahren in Neukölln. Und ich bin Gerüstbauer!“ Dann schlägt er die Tür zu. Die Musik macht er nicht leiser. Wir kaufen uns Ohropax und beschweren uns nie wieder.

Als unser erster Sohn geboren wird, wundern sich die Hausbewohner, dass man in unserem Alter noch Kinder kriegen kann. Unsere Nachbarin war gerade mit Anfang vierzig Oma geworden. Mit Kind ändert sich mein Blick auf die Schillerpromenade. Auf einmal stört mich der Dreck, ich will es schön haben. Die Veränderungen hier reichen mir nicht. Mir fehlen große Bio-Läden und Cafés mit Krabbelecken. Ich habe die Nase voll von Lidl, Aldi und Dönerbuden. Früher war ich tagsüber in Mitte, an der Uni, und abends zum Tanzen in Kreuzberg. Jetzt verbringe ich den ganzen Tag in meinem Kiez, plötzlich ist die soziale Realität hier auch meine.

Wenn ich mir eine Zeitung kaufe, parke ich den Kinderwagen zwischen Leuten, die von morgens bis abends vor dem Kiosk stehen und sich volllaufen lassen. Auf dem Spielplatz hängen pöbelnde Jugendliche rum, denen es völlig egal ist, ob ich Angst habe oder vor Wut ausraste. Als ich mich in einem Kindergarten nach der Elternmitarbeit erkundige, antwortet die Erzieherin: „Wir sind froh, wenn die Eltern ihre Kinder abholen.“

Seit das Tempelhofer Feld freigegeben wurde, hört man häufiger den Satz: „Der Schillerkiez ist im Kommen.“ Im Edeka-Markt kaufen jetzt mehr Studenten ein, abends treffen sich hippe, junge Amerikaner im Café Xenzi, und in den Nebenstraßen öffnen Kunstläden. Das macht die Gegend lebendiger und bunter, aber entstehen dadurch Jobs für die, die hier seit Jahren arbeitslos sind? Bekommen ihre Kinder eine Perspektive? Oder werden die alteingesessenen Anwohner durch steigende Mieten verdrängt, wie viele fürchten?

Vor der Karl-Weise-Grundschule stehen Wachmänner. Sie schrecken auch uns ab. Wahrscheinlich machen wir uns zu viele Gedanken über Spracherwerb und soziales Verhalten und Bio-Essen. Aber wir haben Angst davor, dass sich die meisten Eltern hier zu wenig darum kümmern. Wir ziehen weg. An unserem letzten Tag in Neukölln hole ich die Kinder im Kinderladen ab. Wir steigen ins Auto und fahren los, die Schillerpromenade entlang, ich mit verheulten Augen und die Jungs beladen mit Abschiedsgeschenken. Durch das offene Fenster weht der Keksgeruch vom Bahlsen-Werk, vor einem Kiosk schreien sich zwei Frauen an. Ich gebe Gas.

Bisher erschienen: Oranienstraße (13.7.), Motzstraße (16.7.), Schiffbauerdamm (20.7.), Bergmannstraße (23.7.), Martin-Luther- Straße (27.7.), Sybelstraße (30.7.), Immanuelkirchstraße (3.8.)

Ocka Caremi

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