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Stadtführung: Heimatkunde Neukölln

Von Ayran, Shisha und Kahlschlagsanierung: Frauen zeigen anderen Neugierigen ihren Bezirk. Die ehrenamtlichen Stadtführerinnen haben alle eine andere Muttersprache.

Fortuna dreht sich im Wind. „68 Meter über dem Erdboden“, sagt Nurye Sayman und zeigt auf die Figur auf der Spitze des Neuköllner Rathausturms. Sayman, die kleine Frau mit dem blau gemusterten Kopftuch, steht auf der anderen Seite der Karl-Marx-Straße, auf dem obersten Parkhausdeck des Einkaufszentrums Neukölln-Arkaden. Von hier aus hat man einen weiten Blick über die Dächer des Bezirks. „Wir wollen das Bild, das viele Leute von Neukölln haben, ändern“, sagt jetzt Hiba El Saleh. Sie steht neben Sayman. Ihr Kopftuch ist hellblau. Der Wind kann den Tüchern nichts anhaben, alles ist sorgfältig festgesteckt.

Die beiden Neuköllnerinnen Nurye Sayman, 46, und Hiba El Saleh, 26, sind ehrenamtliche Stadtführerinnen in Neukölln und zeigen regelmäßig ihren Kiez auf eine sehr persönliche Weise – ebenso wie zwei andere weibliche Duos und ein Trio. Jede Führung nimmt eine andere Route, manche haben auch einen Moscheebesuch eingeplant. „Zweite Heimat Neukölln“ heißt das Projekt des Vereins „Kulturbewegt“. Denn alle Frauen haben andere Muttersprachen: Aserbaidschanisch, Amharisch, Englisch, Kurdisch, Polnisch, Russisch sind dabei. Hiba El Saleh ist mit Arabisch aufgewachsen und Nurye Sayman mit Türkisch.

„Neukölln war schon immer ein Einwanderungsgebiet“, sagt Nurye Sayman und erzählt von den Böhmischen Glaubensflüchtlingen, die im 18. Jahrhundert in Rixdorf ankamen, wie der Stadtteil bis 1919 hieß. „Und Neukölln ist noch immer ein Rückzugsort für Menschen in Not.“ Sie guckt kurz auf ihre Karteikarten. Jetzt ist wieder Nurye Sayman an der Reihe: Die Tochter palästinensischer Eltern erzählt von der jüdischen Neuköllnerin Helene Nathan, die bis 1933 die Neuköllner Bibliothek leitete, die heute nach ihr benannt ist und sich im obersten Stock des Einkaufszentrums befindet.

Die Rathausuhr schlägt laut zur vollen Stunde: „Als Kind brauchte ich keine Uhr und wusste trotzdem immer, wie spät es ist“, sagt Nurye Sayman. Vor fast 40 Jahren zogen ihre Eltern als Gastarbeiter aus der Türkei nach Neukölln. Seitdem lebt sie hier und ist heute Erzieherin und Stadtteilmutter. Nach dem Parkhausdach ist die Flughafenstraße die nächste Station der Tour, die am Hermannplatz beginnt. Die Flughafenstraße ist ihre Heimat. „Ich habe mich hier als Kind wohlgefühlt“, erzählt sie. „Und das, obwohl es ein heruntergekommenes Mietskasernenviertel war und wir uns eine Toilette mit zwei anderen Familien teilen mussten.“

Die beiden sprechen von der „Kahlschlagsanierung“ im Rollbergkiez, den Veränderungen in Neukölln seit der Öffnung des Flugfeldes in Tempelhof, von Ayran, Falafel und Shishas, aber auch von Stolpersteinen für jüdische Familien und vom Architekten Reinhold Kiehl, der nicht nur das Rathaus baute, sondern auch das Albert-Schweitzer-Gymnasium. Das hat Sayman nicht besucht, sondern einen Realschulabschluss gemacht. Zu Beginn ihrer Schullaufbahn in Neukölln hatte man sie aber zunächst in eine reine „Türkenklasse“ gesteckt, in der auch türkische Lehrer unterrichteten.

Hiba El Salehs zog erst vor zwei Jahren nach Berlin, vorher hat sie in Bad Hersfeld gelebt und dort Abitur gemacht. Sie wohnt gern in Neukölln, weil hier „Menschen aus 163 Nationen leben“. Vor kurzem hat sie sich einbürgern lassen. Deutsch sein und Kopftuch tragen – das passt für sie gut zusammen. Über ihre Kopftücher sprechen beide gern. „Die gehören zu unserer Religion und beißen nicht“, sagt El-Saleh. Daniela Martens

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