zum Hauptinhalt

Szene: Im Karmanoia lodert das Feuer des Irrsinns

Spielunke, Volkstheater und Labyrinth: Das Kulturzentrum Karmanoia feiert seinen eigenen Untergang.

Hier ist er also, der sagenumwobene Ort, in einem Wohnhaus in einer Neuköllner Seitenstraße am Hermannplatz. Studenten erzählen sich seit Jahren davon. Ein Spielmann steht im Hausflur und zupft die Maultrommel. Ein anderer mit Bart und dem Gang eines Turmwächters greift die Hand des Gastes und führt die Holzstiegen hinauf. „Das Labyrinth hat einen Namen“, raunt er: „Peristal. Das kommt von Peristaltik, der Kontraktion des Darms. Hier ist es aber umgekehrt. Hier führt die Reise vom Arsch zur Seele. Viel Spaß.“

Wie Alice im Wunderland steigt man durch ein Loch, rutscht über eine Rutsche, irrt zwischen Tüchern, Pappmaché und Gipsfiguren durch Gänge, umspielt von seltsamen Geräuschen, stößt auf Fremde, die zusammenzucken. Das Labyrinth ist überfüllt. Alle wollen nochmal rein, bevor abgebaut wird. Das Karmanoia, Berlins spektakulärstes Künstlerhaus, muss schließen. Vor Jahren wurde das marode Gebäude von den Mietern übernommen. Aber keiner konnte die Kredite zahlen, die Wohnungen leerten sich, Banken übernahmen die Zwangsverwaltung. Vor einem Jahr schlug eine Immobilienfirma zu. Ende April wird saniert.

Nur ein Bewohner blieb. Tim Schneider, gelernter Dekorationsmaler. Eine „Berlin-Mitte-Hinterhofgöre“ mit Räuberaugen. „Das Karmanoia ist ein Unfall“, sagt Tim. Es begann mit Theaterabenden zum Mitmachen für ein vertrautes Publikum. Dann kamen immer mehr. Raum für Raum bohrte man sich vor, zimmerte, malte, grub sich in den Keller. Auf einmal war das Karmanoia eine Kneipe mit Konzerten, Theater und Parties. „Wer sich hier wiederfindet, kann mitmachen“, sagt Tim. Das Karmanoia ist ein Labyrinth: „Man weiß nie, wohin es geht. Nächste Woche ist wieder alles anders.“

Eine Woche später. Der Labyrinthwächter hat seinen Bart rasiert, allerdings nur die rechte Hälfte. Die Haare hat er auch geschoren, aber nur die linke Hälfte. Andrija Belosevic, gelernter Bauschlosser, Ex-U-Bahnfahrer, Familienvater. Irgendwann stand er im Karmanoia und fragte, was gebraucht wird. Er baute eine Bar ein und kümmerte sich um die Technik. Heute spielt er im neuesten Theaterstück den nörgelnden Finn, der von Monstern gefressen wird. Georg Losch hat das Stück geschrieben, der Maultrommelspieler aus dem Hausflur. „Trimenon“ ist ein Märchen über einen König, der seinen Sohn sucht, und ein Schiff, das auf dem Meeresgrund liegt, als Stöpsel. Fantastisch, irre, sprachlich verblüffend, technisch virtuos. Eine archaische Spielfreude. Das ist bestes Volkstheater. Wie geht so was? Jeder kann mitmachen, keiner verdient was. Das ist das einzige Konzept. Eine Frau Ende 50 kommt aus dem Theaterraum: „Ich fühle mich an früher erinnert.“ Die Sechziger und Siebziger. „Es ist schade, dass das Haus schließt. Eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, in der Stadt nicht mehr leben zu können.“

Das Gefühl ist übergreifend. Hier kommen 20-Jährige her und 65-Jährige, Hiphopper und Dubstepper. Hier fliegen Gläser, fallen Tische, wird nackt getanzt. Die Leute scheinen hungrig danach zu sein, sich frei zu bewegen. Wenn man Tim fragt, warum so kurz vor der Schließung noch ein Café eröffnet, der Theaterraum zum Schiff umgebaut und zwei Premieren gestemmt wurden, wirft er die Hände in die Luft und ruft: „Es ist unsere Art! Es gibt nur das Machen!“ Man hört diesen Mann reden und denkt: Da draußen die Stadt ist voll von kreativen Selbstverwirklichern, aus deren Blicken die Gier nach Geltung spricht. Doch kaum jemand besitzt dieses Feuer des Irrsinns, des blinden Tatendrangs, wie es in Tims, Andrijas und Georgs Augen flackert. Hier geht es nicht um Selbstbestätigung. Hier herrscht die absolute Hingabe.

Der Bassist der Trash-Swing-Combo The Haferflocken Swingers kommt vorbei. „Tim, wir machen am Samstag so ne Art Theaterkonzert. Willst du Moderator machen?“ – „Okay“, sagt Tim. Niemand hätte sich dieses Haus besser ausdenken können. Was ist seine Lebenssituation? „Meine Lebenssituation ist der Laden!“, ruft er. Ein Zirkelschluss? „Ja, verdammt!“ Tim ist jetzt 29, hat Frau und Kind. Klar hätte man auch um das Karmanoia kämpfen können. Über Zirkusdemos auf dem Hermannplatz ging das politische Engagement aber nicht hinaus. „Uns standen zwei Wege offen: Einen Schuppen draus machen, Studis hinter den Tresen stellen, die Kuh melken. Oder treu bleiben.“ Der harte Kern wird aufs Land ziehen. „Karotten pflanzen, Ziegen melken, nachdenken, leben“, sagt Georg.

Inzwischen hatte das neueste Stück Premiere. Andy Warhol, Frida Kahlo und William Shakespeare kämpfen da in einer Castingshow um den Kunstpreis einer Seifenfirma. Ein heiterer Abschiedsgruß an den etablierten Kunstbetrieb. „Wir würden nie einen Antrag schreiben“, sagt Tim. „Wir würden nie zum Bezirk gehen und sagen: Gebt uns einen Raum. Wir sind gegen Künstlerförderung! Du kannst die Leute nur verzaubern, wenn du dich mit deiner Existenz hergibst.“ Bis Sonntag noch hat das Karmanoia rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag, geöffnet, um in einer Abschiedsfeier zu verglühen. Kommende Woche wird die Einrichtung ausgebaut. Was nicht bei der Schlussauktion versteigert wird, wird bei Freunden untergestellt. „In diesem Laden stecken 10 000 Schrauben!“, brüllt Tim und schlägt Andrija auf den Rücken. „Das wird ein Fest!“

Karmanoia, Mainzer Straße 5, Neukölln, www.karmanoia.de

Zur Startseite