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Bernhard Enste genießt das Berliner Nachtleben.

© I AM JOHANNES

Techno-Rentner Bernhard Enste: Während andere schon schlafen...

... zieht er erst los. Bernhard Enste wird umschwärmt von Menschen, die seine Enkel sein könnten. Mit 65 Jahren tanzt er sich durch die Technoclubs der Stadt. Für die Nachtschwärmer ist er mehr als nur eine Attraktion. Er ist ihre Hoffnung auf ein altersloses Leben.

Wie ein Kobold tippelt Komet durch die Dunkelheit und pustet Seifenblasen in die stickige Luft. Mit kindlichem Grinsen und unruhigem Blick bewegt er sich durch die Masse, die um ihn herumwirbelt. „Ihr seid meine Droge!“, sagt er.

Ein junger Mann bahnt sich den Weg über die Tanzfläche, sinkt vor ihm in die Knie, streckt seine Arme aus und verneigt sich, als huldige er einem Gott. Komet nimmt seinen Jünger in den Arm. Beide schließen die Augen.

Komet heißt eigentlich Bernhard Enste, ist 65 Jahre alt und war Schreiner, bevor er zu einem Idol des Berliner Nachtlebens wurde. Seinen Spitznamen hat er von den Kindern seines Bruders, weil er so viele Geschichten vom Universum erzählt. Davon, dass alle Menschen miteinander verbunden seien.

Die Geschichte, die es über ihn zu erzählen gibt, ist die eines Exoten, der seinen Platz in der Feierszene der Stadt gefunden hat. Hier wird er umschwärmt von jungen Menschen, die seine Enkel sein könnten. Sie feiern ihn und sie feiern mit ihm.

Enste hat einen weißen, fransigen Bart und eine Halbglatze, das Alter hat tiefe Furchen durch sein Gesicht gezogen. Wenn er lacht, sieht man seine Zahnlücken. Er trägt ein Hemd, bedruckt mit buntem Herbstlaub, es flattert bei seinen wilden Bewegungen. Immer wieder taucht er einen Stab in einen Behälter mit Seifenwasser und schwingt ihn wie ein Schwert. Die Seifenblasen schweben über vibrierenden Körpern. Aufgerissene Augen schauen ihnen hinterher, Hände schnellen in die Höhe, greifen nach ihnen. „Ich will die Schwingungen spüren“, ruft Enste mit sich überschlagender Stimme und taucht in die Menge ein.

Er feiert im Berghain, Berlins bekanntestem Technoklub. Dort, wo immer Nacht ist. Dort, wo man sich in brachialem Getöse fallen lassen kann. Der Betonklotz am Ostbahnhof ist das Mekka der Rastlosen. Wenn andernorts die Party aufhört, pilgern die Tänzer hierher.

Als Enste an diesem Sonntagmorgen um halb sieben an den grimmigen Türstehern vorbei ins Berghain geschlüpft ist, hat er bereits in zwei Klubs getanzt, alte Freunde getroffen und neue kennengelernt. Jetzt zuckt er wieder im Takt der Musik über die Tanzfläche.

Stunden vorher, kurz nach Mitternacht, steht ein alter Mann im Rohbau seines Lebens und trinkt Instantkaffee. Ruhe. Enste wohnt allein, seine Frau hat er vor Jahrzehnten verlassen, sein Sohn ist gestorben. Gelegentlich bekomme er Damenbesuch, erzählt er, manche blieben auch über Nacht.

Auf 70 Quadratmetern stapelt sich Holz bis unter die Decke, liegt Werkzeug herum und viel Unfertiges – Überbleibsel aus einem anderen Leben. Aus einer Zeit ohne Berghain.

Die Nacht beginnt im Heimathafen Neukölln

Enste wuchs in einer katholischen Familie in Mainz auf und wollte eigentlich als Priester die Eskimos bekehren. Doch er fiel vom Glauben ab und wurde stattdessen Schreiner. Mit 40 ließ er das Arbeiten sein, um es mit der Kunst zu versuchen. Mit 51 wurde ihm Mainz zu eng und es zog ihn in die Großstadt, nach Berlin. Das Geld zum Leben kommt vom Staat.

SMS von Steffi: „Bist du irgendwo unterwegs? Wir gehen ins Sisyphos.“

Heute schauen die Menschen auf zu Enste. In der Rosenthaler Straße in Mitte hat ein Künstler ein Porträt von ihm an einer Hauswand angebracht. Die Hände im Gesicht, wie in Trance, prangt er da, verewigt auf einer Höhe von drei Stockwerken, ein Teil der Stadt.

SMS von Martina: „Bin in der Brunnen 70.“

Auf Youtube gibt es ein Musikvideo mit ihm in der Hauptrolle, mehr als eine halbe Million Mal wurde es in den vergangenen Monaten angeklickt. Es ist ein Song, wie er in den Klubs läuft, in denen Enste feiern geht. Gleichförmiger Rhythmus, seichte Melodie. „People are strange“, lautet eine Textzeile – Menschen sind seltsam.

Anruf von Elias, im Hintergrund wummert Musik. „Wo bleibst du?“, fragt er. Gute Party? Gute Party! „Ich komme“, sagt Enste.

Vor kurzem hatte Enste Geburtstag, er ist 65 geworden. Seitdem ist er Rentner. Doch Enste hat keine Lust, sich zur Ruhe zu setzen, sagt, er wolle sich „ins Leben reinstürzen“. Und so streift er durch die Klubs, wenn andere, nicht nur in seinem Alter, schon längst schlafen.

Der Spaziergang durch die Nacht beginnt mit einem kurzen Halt im Heimathafen Neukölln; wie meistens muss Enste keinen Eintritt zahlen, man kennt ihn. Ein paar Tanzschritte, ein paar Seifenblasen bloß, dann zieht er weiter in einen Kreuzberger Hinterhof, Ritter Butzke.

Früher wurden in dem Fabrikgebäude Lampen hergestellt, heute gibt es hier nur wenig Licht. Es ist ein Milieu für Traumtänzer. Körper taumeln und stampfen energisch. Schweiß tropft von der Decke.

Hier versuchen die Menschen, dem Alltag zu entfliehen, für einen langen Song, für Stunden, Tage. Hier werden Außenseiter zelebriert, Sonderlinge erhalten Unterschlupf.

Enste zieht eine Kette aus Seifenblasen hinter sich in den Klub. Er liebe die schillernden Kügelchen, sagt er: „Sie lassen mich jünger aussehen.“ Fast nie verlässt er das Haus ohne die Seifenlauge, im Winter mischt er Frostschutzmittel dazu.

Eine Menschentraube bildet sich. „Er ist der Geilste“, tuscheln sie sich zu. „Er ist immer dabei.“

Blitzlichter sausen durch das Dunkel, viele wollen ein Foto mit ihm. Es werden Worte gewechselt – und Telefonnummern. Mehr als 1000 Kontakte hat Enste in seinem Handy gespeichert. Bei Facebook ist er mit 5000 Personen befreundet, mehr lässt das soziale Netzwerk nicht zu. Bald will er eine Fanseite einrichten.

Es ist ein ungewohntes Bild, in dem die Grenzen zwischen den Generationen verschwimmen. Keine schiefen Blicke, keine abfälligen Bemerkungen, die jungen Feiernden nehmen den Senior in ihre Mitte, ganz selbstverständlich. Gemeinsam ergeben sie sich dem Rausch der Endorphine.

"Ich habe keine Lebenszeit zu verschenken"

Wer Enste durch das Zwielicht der Berliner Nacht folgt, wer ihm zuschaut, der versteht: Für die Nachtschwärmer ist er mehr als nur eine Attraktion. Er ist ihre Hoffnung auf ein altersloses Leben, das faltige Sinnbild ewiger Jugend, der Beweis, dass die Feier nie aufhört.

„Ich habe keine Lebenszeit zu verschenken“, sagt Enste. Also dreht er sich wie ein Kreisel durch den Raum. Dann geht er in ruckartige Bewegungen über, klatscht und wackelt mit dem Kopf, als würde er von Krämpfen geschüttelt. Immer wieder hält er kurz inne, faltet die Hände und steht da, nachdenklich, gebetsartig, während sich die pumpenden Rhythmen durch den Raum fressen.

Als Jugendlicher hörte er die Beatles, als junger Erwachsener Santana. Techno, das war für ihn nur Lärm – bis er durch Freunde das Feiern entdeckte. Jetzt wird er unruhig, sobald die Bässe ächzen. Er mag die dreckige Klubluft und die beschwingten Massen.

Er brauche dafür keine Drogen, sagt er, anders als viele in den Klubs, die sich mit Glück in Pulverform aufputschen, mit Speed oder MDMA.

Die ersten Sonnenstrahlen kriechen über den Horizont, als es Enste weitertreibt. Wenig später ist er zurück in der Dunkelheit, verschwunden hinter der massiven Stahltür des Berghains. Leblose Figuren mit aufgequollenen, erschöpften Augen bewegen sich durch Räume mit nackten Wänden und hohen Decken. Mit letzter Energie stemmen sie sich dagegen, den Rückzug nach Hause anzutreten.

Sie preisen ihr Idol, sie verneigen sich vor Enste, umarmen ihn. Er lächelt sanft.

Als er sich für einen kurzen Moment setzt, sagt er, mit dem Blick über die Tanzfläche streifend: „Ich stelle mir vor, ich hätte das nie gesehen. Ich weiß nicht, ob ich dann noch so gesund wäre.“

Manchmal denkt er darüber nach, wie es einmal sein wird, wenn ihm seine Knochen den Tanz verweigern. Aber solche Gedanken verdrängt er schnell, er sagt dann höchstens: „Ich hoffe, dass ich Freunde habe, die mich auf der Bahre in den Klub tragen, damit ich im Liegen meine Seifenblasen in die Menge schieben kann.“

Um zehn Uhr morgens steigt Bernhard Enste aus dem Rhythmus aus und tritt nach draußen ins Licht. Ungläubige Blicke mustern den langen Bart, das bunte Hemd, das Seifenblasenschwert. Manche kichern, andere zeigen auf ihn. Eben noch ein Gott, ist er bei Tageslich für die meisten Leute nur noch ein schrulliger Alter.

Johannes Musial

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