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Auf 1800 Metern präsentiert sich Berlin ungewohnt. Aber auf der Linie U55 sind ja auch keine Berliner unterwegs.

© Doris Spiekermann-Klaas

U55 - die U-Bahn der Touristen: Berlin ist sauber, drei Minuten lang

Seit fünf Jahren fährt die U55 vom Hauptbahnhof zum Brandenburger Tor – die Touristen sind begeistert. Für drei Minuten ist Berlin sauber. Einheimische sieht man dort selten.

Puh – kalt. Das ist das erste Gefühl beim Weg hinunter zur tiefsten U-Bahn-Station Berlins, der Haltestelle „Brandenburger Tor“ der U55. Auf dem Bahnsteig 15 Meter unter der Erde fällt noch etwas auf: Fast alle hier tragen kurze Hosen und bunte Hemden, viele davon eine Tasche um den Bauch und einen Stadtplan in der Hand. Und kaum jemand stiert teilnahmslos in sein Smartphone, stattdessen bildet ein beständiges Geschnatter auf Russisch, Englisch und Spanisch die Geräuschkulisse. Alles ist friedlich hier unten. Es sind ja auch keine Berliner da.

„98 Prozent der Fahrgäste sind Touristen“, vermutet Andreas Reichert, „die anderen zwei Prozent arbeiten für den Bundestag oder irgendeine Botschaft.“ Der 54-Jährige muss es wissen, er ist Fahrer auf der kürzesten und entspanntesten Linie der Stadt. Sie hat drei Stationen.

Sauberen Bahnen, gelassene Stimmung

Das besondere Publikum war ein Grund, warum sich Reichert gerade auf diese Strecke beworben hatte. Fünf Jahre ist das jetzt her, noch vor der Eröffnung am 8. August 2009; Reichert hat diese Entscheidung „keine Sekunde bereut“. Er freut sich über die sauberen Bahnen und Bahnhöfe und die gelassene Stimmung. „Das hier ist wirklich noch eine heile U-Bahn-Welt“, schwärmt er. Man kennt sich, manche Fahrgäste begrüßt er mit Handschlag – denn anders als bei anderen Linien haben die Fahrer dieser Strecke viel Kontakt mit ihren Gästen.

 Andreas Reichert fährt seit fünf Jahren zwischen drei Stationen hin und her.
Andreas Reichert fährt seit fünf Jahren zwischen drei Stationen hin und her.

© Bodo Straub

Reichert drückt einen grünen Knopf über seinem Kopf. Draußen rutscht der Schriftzug „Brandenburger Tor“ am Kopfende der Bahn nach oben und macht Platz für „Hauptbahnhof“. Reichert schließt das Fahrerpult ab, sperrt die Tür hinter sich zu und schlendert den Bahnsteig entlang zum anderen Ende der Bahn. Dort schließt er die Tür des Führerhäuschens auf, klemmt sich hinter das Fahrerpult, wirft einen Blick in den Spiegel und legt den Hebel nach vorne. Die U55 ruckelt los – in die Richtung, aus der sie gerade gekommen ist. Das alles macht Reichert alle fünf Minuten. Denn mit nur drei Stationen ist die als „Kanzlerbahn“ verspottete Linie die kürzeste U-Bahn-Linie Berlins.

Nach einer Minute und zwanzig Sekunden Fahrt hat sie schon die halbe Strecke zurückgelegt. Der Bahnhof „Bundestag“ grüßt mit hohen Säulen, an deren oberem Ende sanft das Tageslicht hineinfällt. Reichert erzählt: „Früher gab es hier tagsüber gar kein künstliches Licht, das sah toll aus. Aber dann hat sich ein Abgeordneter beschwert, dass es zu dunkel sei.“ In seiner Acht-Stunden-Schicht erfährt er nur anhand der Kleidung seiner Fahrgäste, wie das Wetter draußen ist.

Aktuell regnet es gerade wohl kurz – eine Frau wischt die Tropfen von ihrer Sonnenbrille. Im Gegensatz zu anderen Bahnen ist innen der Geräuschpegel hoch – für die zwei Stationen, die es maximal zu fahren gibt, holt kaum jemand sein Sudoku aus dem Rucksack, und nur wenige Touristen haben in Deutschland mobiles Internet.

„Sorry, Bundestag?“

Auch an der Haltestelle Bundestag steigen einige Leute zu. Sitzplätze gibt es keine mehr, viele stehen. Die generell hohe Auslastung kam für die BVG überraschend: „Am Tag fahren 8500 Fahrgäste mit der U55, wir hatten eigentlich nur mit 5000 gerechnet“, berichtet eine Sprecherin. Damit kommen natürlich trotzdem nicht die enormen Baukosten von 320 Millionen Euro für die 1800 Meter kurze Strecke wieder rein, aber wenn eines Tages – spätestens 2019 – die Verbindung vom Brandenburger Tor zum Alexanderplatz hergestellt ist, die U55 nur noch U5 heißt und vom Hauptbahnhof bis Hönow durchfährt, rechnet die BVG mit 155 000 Fahrgästen pro Tag.

Zwei Minuten und fünfzig Sekunden nach der Abfahrt am Brandenburger Tor hält der Zug in der Endstation Hauptbahnhof. Reichert schlendert wieder den Bahnsteig entlang zum anderen Ende des Zuges, da tritt ihm eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren in den Weg: „Sorry, Bundestag?“, fragt sie mit starkem slawischen Akzent. „Bundestag is this line“, antwortet Reichert. Mittlerweile kann er auch auf Italienisch und Spanisch Auskunft geben, sagt er; das bringe seine Linie eben mit sich.

Ein Kinderwagen blockiert die Tür in die Fahrerkabine – er gehört Peter, einem Touristen aus Dänemark, der mit seiner Familie Urlaub in Berlin macht. Er ist zum ersten Mal hier, und diese U-Bahn macht ihn neugierig: „Natürlich habe ich mich gefragt, warum sie so kurz ist“, sagt er. Neben ihm sitzt Eric. Der Student aus den USA ist erst seit fünf Tagen in Deutschland und hat die U55 sofort zu seiner Lieblingsbahn erklärt: „Alles ist so sauber hier und die Bahnhöfe sind richtig schön.“ Reiseblogs empfehlen die Fahrt mit der U55 – auch, weil es wohl nur ein Vergnügen auf Zeit ist.

Sogar ein Fernsehsender aus dem Oman hat Andreas Reichert schon interviewt. Der ist auch fünf Jahre nach der Eröffnung begeistert von der Linie. Während der Zug wieder in den Bahnhof Brandenburger Tor hineinschleicht, sagt er: „Als ich vor 33 Jahren bei der BVG angefangen habe, hätte ich ja im Traum nie geglaubt, dass ich einmal diesen Ort anfahre – alle fünf Minuten unter der Ost-West-Grenze durch.“ Heile Welt.

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