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Berlin: Vorwärts mit der Roten Ilse

Die einstige SPD-Senatorin Ilse Reichel gründete das erste Frauenhaus und andere linke Projekte. Sie starb vor zehn Jahren

Sie hat dafür gesorgt, dass Kitas von Betreuungs- zu Bildungsstätten wurden, samt Mitspracherecht der Eltern. Sie hat sich früh gegen das Züchtigungsrecht der Eltern gewandt; mittlerweile ist es bundesgesetzlich untersagt. In Grunewald hat sie das bundesweit erste Frauenhaus für misshandelte Frauen aus der Taufe gehoben. Ilse Reichel, Senatorin für Familie, Jugend und Sport von 1971 bis 1981, hat der Familien- und Jugendpolitik neue Impulse gegeben und vieles durchgesetzt, was heute als selbstverständlich gilt, aber damals heilige ideologische Kriege ausgelöst hat. Vor zehn Jahren starb sie überraschend mit 68 Jahren.

Sie wurde Senatorin in der Zeit des Aufbruchs der Linken. Die „rote Ilse“, gelernte Jugendpflegerin, erwies sich jedoch im SPD-Senat von Klaus Schütz und dann im SPD/FDP-Senat von Dietrich Stobbe als fachlich versiert und pragmatisch.

Mit umstrittenen Neuerungen fiel sie bereits als Jugendstadträtin in Reinickendorf (1965 bis 1971) auf. Sie erfand dort den ersten Abenteuerspielplatz zum Hämmern und Feuer machen. Sie hielt ihre schützende Hand über den Jugendclub „Prisma“, wo über APO-Ideen geredet und, oh Schreck, die Pille verteilt wurde –typisch für ihr Amtsverständnis. Sie wollte nicht „bevormunden“.

Für Kinder Partei ergreifen: Das war ihr Credo. Sie verstand darunter die „demokratische Erziehung zu freien, kritikfähigen Persönlichkeiten“. Dazu brauchte es Kitas. Die Mütter sollten sich im Beruf entfalten können. Das erforderte mehr und besser ausgebildete Erzieher. Die Zahl der Kitaplätze stieg um 20000 , aber nach Einführung des Nulltarifs 1977 standen 25000 Kinder auf der Warteliste, was großen Ärger machte.

Ilse Reichel ging immer neue Weg. Sie warnte vor der Bekämpfung der Jugendkriminalität mit der Polizei, richtete die erste therapeutische Wohngemeinschaft für Drogenabhängige ein und verschob die Akzente von der Heimunterbringung zu heilpädagogischen Pflegestellen.

In der SPD-Rechten hatte die SPD-Linke Ilse Reichel wenig Freunde. Die CDU machte ohnehin konsequent Front gegen ihre Politik. „Fremdbestimmung der Familie“, lautete der Hauptvorwurf. Episoden illustrieren die erbitterten Auseinandersetzungen. Vor dem Parlament sprach ihr Ende 1973 der CDU- Abgeordnete und spätere Senator Edmund Wronski, Vater von sieben Kindern, das Recht zur Familienpolitik ab, da sie „nicht in einem intakten Familienverband“ lebe. Sie hatte keine Kinder und war geschieden. Schulsenator Gerd Löffler (SPD) duldete die von ihr unterstützte Frauen-Ausstellung nicht in der Landesbildstelle, weil auch „die Frau in ihrer Rolle als Sexualobjekt“ gezeigt wurde. Ein anderer SPD-Senator spottete, in der Reichel-Verwaltung gehe es zu „wie bei Hempels unterm Sofa“. Sie konterte: „Ich bin eben auch für Hempels zuständig und für die Unordentlichen in der Gesellschaft.“

Ihre Verwaltung stand im Ruf einer linken Kaderschmiede. Es wurde diskutiert, geplant, manches ging schief oder verlief im Sande. Ihr Führungsstil war neu, sie wollte von Mitarbeitern Kritik hören: „Wo ich gut bin, weiß ich selbst.“ Sie war für Neuheiten, „ohne die Erdung zu verlieren“, sagt Ex-Senatorin Ingrid Stahmer, damals ihre Referatsleiterin. Geerdet war Frau Reichel von Kindheit an im SPD-Milieu.

In die Schusslinie geriet die Senatorin auch wegen ihrer preiswerten Sozialwohnung im Corbusierhaus. Lange weigerte sie sich auszuziehen mit dem Argument, gut Betuchte sollten in Sozialwohnungen bleiben, womöglich gegen höhere Miete, um eine gesunde Mieterstruktur zu erhalten. Mit dem Sturz des Stobbe-Senats endete ihr Amt. Sie blieb noch acht Jahre Abgeordnete. Heute wird sie in einem Atemzug mit ihrer großen Amtsvorgängerin und Mentorin Ella Kay (1955 bis 1962) genannt. Die SPD widmete Ilse Reichel und ihrem „imposanten Lebenswerk“ (Stobbe) jetzt eine Gedenkschrift und am Vorabend ihres zehnten Todestages, dem 17. Dezember, eine Gedenkveranstaltung.

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