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Berlin: Wo die Erinnerung lebt

Vor einem Jahr wurde die Deutsch-Türkin Hatun Sürücü erschossen. Drei ihrer Brüder sitzen seither in Haft. Die Erschütterung über den so genannten Ehrenmord war groß. Und heute? Eine Spurensuche

Die Tat erregte landesweit Aufsehen – die Ermordung Hatun Sürücüs. Von Anfang an galt das Verbrechen als so genannter Ehrenmord. Die junge Frau starb am 7. Februar durch Schüsse in den Kopf, und die Polizei nahm bald darauf drei ihrer Brüder fest. Eine Diskussion über Werte und Integration begann, in deren Folge mehrere Gesetze auf den Weg gebracht worden sind, um die Rechte von Frauen ausländischer Herkunft besser zu schützen.

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Die Werkstatt. Alles ist noch so, wie Hatun Sürücü es an ihrem letzten Tag verlassen hat. Zwei Aktenordner hat die 23-Jährige in ihren Spind gelegt, dazwischen eine weiße Plastiktüte gestopft. An der Tür klebt ein Foto von Can, ihrem damals fünfjährigen Sohn. Für Azubi Georg ist es nicht leicht, jeden Morgen auf den Spind zu schauen. Und auf das Foto der lächelnden Hatun an der Wand der Elektrowerkstatt. „Mit jeder Erinnerung kriegt man immer wieder diese Hassgefühle“, sagt der 19-Jährige. Dann koche die Wut wieder, auf die Sürücüs, auf Hatuns Brüder – und, was Georg vielleicht am meistens schmerzt, auf die eigene Machtlosigkeit. „Dass man nichts gemerkt hat, dass man nicht tun konnte …“

Zehn Schraubstöcke stehen auf der langen Werkbank im Ausbildungswerk Kreuzberg, der am Kopfende gehörte Hatun Sürücü. Sie war eine selbstbewusste junge Frau, die mit der Tradition ihrer erzkonservativen Familie gebrochen, das Kopftuch abgelegt hatte und ihren Sohn allein aufzog. Die stolz war auf ihre neu erworbene deutsche Staatsbürgerschaft, auf ihre Lehre als Elektroinstallateurin, auf ihren Führerschein. Am Wochenende ging Hatun Sürücü mit Georg und den anderen gerne tanzen, ins Matrix, Tollhaus oder in die Junction Bar. „Hatun war eine richtige Stimmungskanone“, erzählt Georg, „sie stürmte auf einen zu, breitete die Arme aus und rief: Na, mein Süßer, komm mal her!“ Ihre Probleme behielt Hatun Sürücü für sich.

Es war das Radio, das am Morgen des 8. Februar in der Werkstatt einen schrecklichen Verdacht aufkommen ließ: Ein Mord war geschehen. Das Opfer eine Deutsch-Türkin. In der Oberlandstraße. „Das ist doch Hatuns Kiez“, riefen sich da die Lehrlinge zu und versuchten, ihre Freundin auf dem Handy zu erreichen – vergeblich. Schließlich rief Heidi Koselowsky, die Sozialarbeiterin, bei der Kriminalpolizei an. Ihre Stimme und den Satz, der ihnen endgültig Gewissheit brachte, haben die Lehrlinge bis heute im Ohr: „Oh, Gott, nein!“ Erst kamen die Polizisten, dann die Reporter. Über Hatuns Zwangsheirat, über die Trennung von ihrer Familie und den Streit mit ihren Brüdern haben die Lehrlinge erst später aus den Zeitungen erfahren. „Der unfassbare Schock, die Wut, der Medienauflauf – das alles hat uns das Trauern damals weggenommen“, sagt Heidi Koselowsky. Am ersten Todestag wollen sie sich alle am Grab versammeln. „Jetzt können wir endlich unsere eigene Trauer zulassen.“

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Das Grab. „Ganz hinten“ sei das Grab von Hatun Sürücü, sagt eine Mitarbeiterin am Eingang des Landschaftsfriedhofs Gatow. Sie weiß sogar die Nummer der Grabstelle, es ist die 95 im Block 14, das letzte Feld, bevor der Friedhof in Landschaft übergeht. Ein schmutziges Weiß liegt über dem Friedhof, durchbrochen von den Gräbern hunderter, wenn nicht tausender Muslime, die hier seit 1988 beerdigt worden sind. Block 14 ist am weitesten vom Eingang entfernt. Der Weg führt über große Pflastersteine. Birken stehen am Weg. Hatun Sürücüs Grab befindet sich zwischen zwei noch nicht belegten Grabstellen. Alle Gräber hier sind nach Mekka ausgerichtet – so dass die Toten mit dem Gesicht nach Mekka aufstehen würden. Nicht alle Gräber tragen einen Stein, die meisten Steine sind mit arabischen Zeichen beschriftet. Ein paar kleine Koniferen wachsen auf dem Grab, ein paar Blumensträuße, die vor nicht allzu langer Zeit hier abgelegt worden sind, verblassen in der Winterluft. Ein Strauß ist in der Blumenvase festgefroren, ein Beweis dafür, dass dieses Grab Besucher hat. Wer hier hinkommt, findet keine Lebens- und Sterbedaten von Hatun Sürücü. Aber auf dem Grab liegt ein Foto. Man ahnt nur noch die Gesichter einer jungen Frau und eines kleinen Jungen.

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Der Tatort. In der Luft hängt der Geruch von Keksen. Die große Bahlsen-Fabrik an der Oberlandstraße ist nicht weit. Hatun Sürücü lebte hier, in einem dreigeschossigen Haus an der Bacharacher Straße, ganz oben. Wenn wir dort vorbeigehen, sagt Elisabeth Meschter, die einen Zeitungsladen um die Ecke hat, dann gucken wir immer noch hoch. Derzeit sind nur zwei der sechs Wohnungen vermietet – die anderen sollen saniert werden. Vier Briefkästen im Hausflur sind zugeklebt. An einem ist noch ein Namensschild befestigt. „Sürücü“ steht darauf. Daneben hängt ein Zettel: „verstorben“.

An dem Abend, an dem sie sterben musste, ging Hatun Sürücü mit ihrem jüngsten Bruder die wenigen hundert Meter von der Bacharacher Straße 42 bis zur Oberlandstraße. Dort wollte ihr Bruder angeblich den Bus nehmen. Gestorben ist sie mit drei Kugeln im Kopf nur ein paar Meter von der Haltestelle entfernt, auf grauen Betonplatten in der Nähe einer Hauswand. Jetzt liegen dort Blumen, eine blasse blaue Rose, ein Strauß ehemals roter Rosen.

Elisabeth Meschter hat eine Tochter, die mit Hatun Sürücü befreundet war. In einem Regal in ihrem Laden stehen zwei Farbfotos, rahmenlos, leicht gerollt. Zwei junge Frauen, die man gerne ansieht, die eine ist die Tochter, die andere ist Hatun Sürücü. Elisabeth Meschter nennt Hatun Sürücü immer „Aynur“ – diesen Namen hatte sich die junge Frau selbst gegeben, so nannten sie auch ihre Freunde. Im Zeitungsladen war Hatun-Aynur ziemlich häufig, zum Zigarettenkaufen und zum Kaffeetrinken, zum Plaudern. Der Laden ist für viele Bewohner der Siedlung ein Treffpunkt, und wer in dem Laden nach Hatun Sürücü fragt oder über sie spricht, der hört lauter nette Geschichten. Dass sie immens freundlich war. Frank Krause, der neben dem Zeitungsladen eine Werkstatt für Motorroller betreibt, packt alles in den einen Satz, Hatun Sürücü sei so etwas wie „die gute Seele der Straße gewesen mit ihrer guten Laune“. Und genauso wie Can, ihren kleinen Jungen, würde er sich seinen eigenen Sohn wünschen – neugierig, frech und freundlich. Der Junge ist es auch, an den Krause zuerst denkt, wenn man ihn fragt, was von Hatun geblieben sei. Can lebt heute in einer Pflegefamilie – wie und wo, ist streng geheim. Den Sürücüs ist es untersagt, mit dem Jungen Kontakt aufzunehmen, daran wird sich vermutlich auch in Zukunft nichts ändern. „In jedem Fall aber nicht, solange der Mordprozess gegen die drei Brüder läuft“, sagt die Tempelhofer Jugendstadträtin.

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Der Gerichtssaal . 19 Prozesstage, und an jedem hatte man den gleichen Eindruck: Mit teilnahmslosen Gesichtern sitzen die drei Brüder nebeneinander, zuweilen lächeln sie spöttisch oder schütteln die Köpfe. Am ersten Tag haben Mutlu, Alpaslan und Ayhan Sürücü erklärt, den Tod ihrer Schwester zu bedauern. Seitdem haben sie kein Zeichen des Mitgefühls erkennen lassen. Im Gegenteil: Läuft eine Verhandlung schlecht, pöbeln sie von der Anklagebank. „Hure“, zischte Ayhan Sürücü einer Zeugin zu. „Scheißpresse“, schrie Alpaslan, „Arschlöcher!“ Sie sehen sich nicht sonderlich ähnlich, die Brüder Sürücü. Während Alpaslan mit seinem lockigen Haar und seiner runden Brille als aufgeklärter TU-Student durchgehen könnte, wirkt sein jüngster Bruder fast konservativ: mit den schwarzen Hemden, dem gestutzten Bärtchen und der goldenen Uhr. Der 19-Jährige war es, der im Prozess die tödlichen Schüsse gestanden hat. Der sich zuvor in maßloser Selbstüberschätzung zum Familienoberhaupt ernannt hatte, nachdem die älteren Brüder ausgezogen waren und der kranke Vater sich meistens in der Türkei aufhielt. Dem psychiatrischen Gutachter hat Ayhan erzählt, dass er um alles in der Welt verhindern wollte, dass seine Schwester in die Familie zurückkehren könnte. „Je öfter sie kam, desto mehr gingen meine kleinen Schwestern zu ihr. Sie hat die Ordnung gestört. “ Den Gutachter haben die Gespräche mit dem 19-Jährigen vor allem in einem Punkt überzeugt: Aus seiner Sicht ist auf Ayhan das Jugendstrafrecht anzuwenden – wegen Reifedefiziten. Damit drohen ihm maximal zehn Jahre Haft. Für seine Brüder geht es noch immer um lebenslänglich.

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