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Anpacken und auspacken. Immer mehr Menschen zieht es in die Stadt. 

© Thilo Rückeis

Zuwanderung: Berlin wächst um 40 000 Menschen im Jahr

Berlin wächst und wächst. Skeptiker befürchten Armutswanderung, doch das stimmt nur bedingt. Und die meisten Neuberliner ziehen nicht in die Szenebezirke.

Überall wird gebaut – aber das ist noch nicht genug. Jüngst hat die SPD den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften ein 775 Millionen Euro großes Bauprogramm verordnet, das nach Ostern im Abgeordnetenhaus beschlossen werden soll. Am Gleisdreieck in Kreuzberg, in der Europacity nördlich des Hauptbahnhofs und auch im Lichterfelder Süden entstehen ganze Siedlungen. Die vielen Neubauten sollen helfen, die Wohnungsnot in der Stadt zu lindern, die sich verschärft, weil die Bevölkerungszahl zuletzt um 40 000 Menschen jährlich stieg. Diese Zahl ist ständig zu hören, zu lesen. Aber wer sind eigentlich diese 40 000 Menschen? Wo kommen sie her?

Das ist die Gretchenfrage – denn wer weiß, wer da kommt, kann so manches über die Veränderung in den Quartieren berichten, über die neue Mischung der Kulturen und Lebensstile sowie über Berlins Chancen, auch wirtschaftlich Anschluss an Regionen wie München zu finden. Dass sich Berlin rasant verändert, zeigt auch diese Zahl: Fast 160 000 Menschen kommen jedes Jahr neu in die Stadt – statistisch gesehen ist binnen 20 Jahren die ganze Bevölkerung der Stadt einmal ausgetauscht. Dabei kommen mehr Deutsche nach Berlin (87 000) als Ausländer (71 000). Und was kann man über diese Menschen sagen? Ein Überblick.

Ledig sind ganz viel - und jung

Die weit überwiegende Zahl der Neuberliner ist jung und ledig. Dies gilt sowohl für die aus dem Ausland herziehenden als auch für die Bewohner anderer Bundesländer, die nach Berlin wechseln. Fast 80 Prozent aller Zuziehenden sind ledig und fast die Hälfte der Neuberliner 18 bis 30 Jahre alt. Rechnet man die 30- bis 45-Jährigen hinzu, sind bereits drei Viertel aller Zuziehenden erfasst. Bemerkenswert ist, dass mehr Ausländer im besten Erwerbsalter zwischen 30 und 45 Jahren (22 000) nach Berlin kommen als Deutsche (20 000).

Ost- und Südeuropäer zieht es her

Die Wirtschaftskrise in Südeuropa und die Erweiterung der Europäischen Union wirken sich auf die Berliner Bevölkerung aus. Überhaupt stieg der Zuzug aus dem Ausland in den vergangenen Jahren sprunghaft: von etwas mehr als 45 000 jährlich auf rund 70 000 Menschen. Einen ähnlich starken Zuzug gab es zuletzt in den Jahren der Berlin-Euphorie nach der Wende (im Jahr 1995 waren es 73 000 Menschen). Von „Armutswanderung“ allein zu sprechen, greift zu kurz, denn die größte nationale Gruppe unter den 70 000 ausländischen Neuberlinern kommt aus dem wirtschaftlich erfolgreichen Nachbarland Polen (8000 Zuzüge). Eine starke Wanderung nach Berlin hat allerdings auch in den früheren „Schwellenländern“ der EU eingesetzt: 5300 gemeldete Neuberliner aus Bulgarien, weitere 3600 aus Rumänien machen das deutlich. Fast ebenso viele kommen aus dem von Arbeitslosigkeit gebeutelten Spanien, 3200 aus dem wirtschaftlich angeschlagenen Italien. Mehr als die Hälfte der ausländischen Neuberliner kommt aus der EU (40 000). Bemerkenswert außerdem der recht hohe Zuzug aus Asien (9000 Menschen).

"Go East!" heißt es im Westen

Der Umzug der Bundesregierung ist schon lange vollzogen – der Zuzug aus Nordrhein-Westfalen und den alten Bundesländern (knapp 50 000) geht trotzdem munter weiter und überflügelt sogar die Stadtwanderung aus dem Osten (40 000). Schaut man auf die einzelnen Bundesländer, kommt die größte Gruppe der Zuziehenden erwartungsgemäß aus Brandenburg nach Berlin (24 000). Knapp halb so viele kommen aus NRW (12 000). Und nicht etwa die Schwaben (plus Baden-Württemberg: 7669), die vielen in Prenzlauer Berg auffallen, sondern die 8300 Bayern stellen die drittgrößte Zahl von Zuzüglern. Nennenswert außerdem: Niedersachsen stellt 7000 Neuberliner. Im langjährigen Vergleich ziehen zwar immer mehr Menschen aus deutschen Bundesländern nach Berlin (Anfang der 2000er Jahre nahm der jährliche Zuzug aus Deutschland um etwa 12 000 Menschen zu), das Plus liegt aber weit hinter der Dynamik des Zuzugs aus dem Ausland (plus 20000).

Auch der Speckgürtel wächst.

Mit Kindern kommen nur wenige

Ein Kind auf zehn Neuberliner – Familien zieht es eher nicht in die Hauptstadt. Bemerkenswert ist: Deutsche, die Kleinkinder bis sechs Jahre haben, ziehen eher nach Berlin als Ausländer, die Kleinkinder haben. Bei den schulpflichtigen Kindern bis 18 Jahren gleicht sich das Verhältnis an: 4000 Kinder aus der Gruppe der ausländischen Zuzügler (insgesamt 71 000) stehen 4700 Kindern aus der größeren Gruppe der deutschen Zuzügler (insgesamt 87 000) gegenüber.

Viele neue Jobs für EU-Ausländer

Immer mehr Menschen leben in Berlin – und immer mehr haben einen Job in Berlin. Dieser Trend ist neu und hat um das Jahr 2008 herum eingesetzt. Insgesamt nahm die Zahl der regulären Stellen mit Renten- und Krankenversicherung im vergangenen Jahr um 3,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu. Überdurchschnittlich stark sorgten die ausländischen Neuberliner aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union für den Jobzuwachs: Die Zahl derjenigen, die eine sozialversicherungspflichtigen Arbeit haben, stieg im Vorjahresvergleich um mehr als 26 Prozent und damit von allen Gruppen am stärksten. Überraschend ist der Zuwachs an regulären Jobs bei den über 60-jährigen Berlinern: Deren Zahl nahm im vergangenen Jahr um mehr als zwölf Prozent zu gegenüber dem Vorjahr. Das ist ein mehr als doppelt so starkes Wachstum wie bei den Menschen im besten arbeitsfähigen Alter: die Zahl der fest beschäftigten 30- bis 40-Jährigen nahm um etwas mehr als fünf Prozent zu, bei den 50- bis 60-Jährigen lag der Zuwachs bei etwas weniger als fünf Prozent. Nur die Zahl der 40- bis 50-Jährigen mit regulärer Beschäftigung nahm geringfügig ab.

Auch der Speckgürtel wächst

Um 7000 Einwohner stieg die Bewohnerzahl im Berliner Umland im Jahr 2011. Jung sind ganz viele, die aus dem Ausland und aus anderen Bundesländern in die Nähe Berlins ziehen: die 21- bis 34-Jährigen stellen die größte Gruppe der Zuzügler. Viele junge Familien sind darunter, dafür spricht der auffällig hohe Zuwachs an Kindern bis vier Jahren unter den Zuziehenden. Das gilt auch für die Berliner, die es über die Stadtgrenzen hinaus ins Umland treibt. Übrigens, der Speckgürtel wächst auf Kosten Berlins: rund 4800 Menschen mehr ziehen „raus“ als Bewohner des Umlands in die Stadt hereinziehen. Auch die Zahl der ausländischen Staatsbürger, die ins Berliner Umland ziehen, ist um 1500 größer, als die Zahl derjenigen, die von dort wieder fortziehen.

Die Stadt der Jugend altert dennoch

Innerhalb von sechs Jahren stieg die Zahl der 18- bis 34-jährigen Berliner um fast ein Viertel (plus 163 000 Personen), trotzdem alterte der „Durchschnittsberliner“ in dieser Zeit von 42,2 auf 42,9 Jahre. Damit ist der Berliner aber immer noch jünger als der Deutsche im Bundesdurchschnitt: Dieser alterte fast doppelt so schnell und ist nun fast 44. Übrigens, erstmals seit Kriegsende gibt es in Berlin einen Geburtenüberschuss: Es gibt mehr Neugeborene als Todesfälle.

Und wie ist nun das Fazit?

Berlin ist beliebt, aber keine Boomstadt – und die Zuziehenden sind keinesfalls überwiegend gut bezahlte Beschäftigte mit Karriereambitionen. Getragen wird das Bevölkerungswachstum weiterhin stark von Studenten und Auszubildenden. Zu ihnen gesellen sich seit Beginn der Finanzkrise und der Ausweitung des Binnenmarktes eine wachsende Zahl von Ausländern auf Jobsuche. Dies lässt sich nicht nur aus dem Alter und der Herkunft der Zuziehenden schließen, sondern auch von den am stärksten wachsenden Bezirken: Reinickendorf, Spandau und Neukölln verzeichneten im dritten Quartal des vergangenen Jahres den größten Zuzug – alle drei Bezirke haben ein überdurchschnittlich großes Angebot an billigen Mietwohnungen. Ermutigendes gibt es auch: Der Anteil der „Hochqualifizierten“ stieg in Berlin seit dem Jahr 2003 um zwei auf 15 Prozent.

Auch kamen zuletzt „mehr Erwerbseinsteiger und junge Erwerbstätige“ in die Stadt als bisher, sagt Ludger Baba, Forscher am empirica-Institut. Und Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hebt die ordentliche Zunahme der regulären Beschäftigung hervor. An die Entwicklung von München reicht die Berliner Bevölkerungsdynamik aber nicht heran, sagt Jürgen Paffhausen vom Statistischen Landesamt – aber immerhin: „Berlin wächst ähnlich wie Hamburg und Köln“.

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