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Endspiel. Szene aus „Baal“ vom Münchner Residenztheater in der Regie von Frank Castorf. Die Inszenierung war beim Theatertreffen das letze Mal zu sehen.

©  Thomas Aurin

53. Berliner Theatertreffen: eine Bilanz: So viel Gegenwart war nie

Die allerletzte Aufführung von Frank Castorfs "Baal"-Inszenierung beim Berliner Theatertreffen schlug hohe Wellen. Ganz zur Freude des scheidenden Volksbühnen-Intendanten. Eine Bilanz.

„135 zum Ersten, zum Zweiten und zum Dritten!“ Die letzte Karte für Frank Castorfs „Baal“-Gastspiel kommt tatsächlich für 135 Euro unter den Hammer. Ein beglückter schwedischer Schauspieler – bekennender Castorf-Fan der ersten Stunde – ersteigert sie, für mehr als das Doppelte des normalen Verkaufspreises. Tickets sind schließlich heiß begehrt, seit man weiß, dass die „Baal“-Aufführung zum Finale des Berliner Theatertreffens zugleich die letzte überhaupt sein wird. Die Brecht-Erben hatten die Vorstellung vom Münchner Residenztheater, die das Stück mit Texten von „Apocalypse Now“ bis Rimbaud, von Sartre bis Frantz Fanon auflädt, qua Gerichtsurteil verbieten lassen.

Also sitzt eine charmante Restbestandsauktionarin vor dem Haus der Berliner Festspiele – natürlich im Dienste des guten Zwecks: „Die Erlöse gehen zu 100 Prozent an die bitterlich bedrohten Brecht-Erben“, steht in Volksbühnen-affiner Ironie auf einem Schild. Und gleich daneben: „Castorf geht“ (Frowney), „Werktreue bleibt“ (Smiley).

Überhaupt ist der erste öffentliche Auftritt des Berliner Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf seit dem von Tim Renner und Michael Müller geschaffenen Fakt, dass die Kult-Bühne mit dem „Ost“-Label 2017 an den Museumskurator der Londoner Tate Modern Chris Dercon geht, auch im tiefsten Wilmersdorfer Westen ein großes Heimspiel. Keine drei Schritte vom Auktionsstand entfernt: Andrang bei der Unterschriften-Initiative „Volksbühne muss bleiben“. Und Castorf selbst gibt sich in lakonischer Bestform, als er nach der Vorstellung die Theatertreffen-Trophäe entgegennimmt: Vierzig Jahre habe er darauf warten müssen, endlich mal wieder verboten zu werden, scherzt der an realsozialistischen Arbeitserschwerungserfahrungen reiche Regisseur zum Brecht-Erben-Casus launig in die Runde.

Castorf entdeckt eine geniale Verknüpfung

Auf der Bühne indes halten sich die Kalauer in Grenzen. Einmal hockt Bibiana Beglau als „Höllengemahlin Isabelle“ vor einem stattlichen Umzugskarton und stöhnt über die vielen „Fremdtexte“. Und ihr Kollege Götz Argus besingt in einem lustigen Monolog hymnisch einen „ganz besonderen Menschen“, nämlich „den Claus“ vom Brecht-Theater am Schiffbauerdamm, der jetzt schnöde in die Rente abgeschoben werde. Und zwar – Argus- Augen-Rollen – „nicht als einziger“ unter den viel beschworenen „alten Säcken“! Großes Gelächter im Parkett und später, beim Schlussapplaus, stehende Ovationen für Frank Castorf.

Ansonsten entdeckt Castorf im „asozialen“, egoistisch jedes Gesetz übertretenden Menschen- und namentlich Frauen- Verschlinger Baal eher ernsthaft den kolonialistischen Eroberer. Im Krieg, wo die (Gesetzes-)Übertretung bis zum seriellen Töten der Regelfall ist, wird der kompromisslos egoistische Charakter nicht nur zum Normalo, sondern zum gesellschaftlich legitimierten Heroen: Eine ziemlich geniale Verknüpfung, die Brecht tatsächlich für eine sehr ungemütliche Gegenwart aufschließt. Dieser Baalsche Kolonialist, mithin wir (Europäer) schlechthin, rennt in Aurel Mantheis Darstellung allzeit kopulationsbereit im schwarzen Schlüpfer durch Aleksandar Deniks Drehbühnenwelt; hetzt viereinhalb Stunden lang von Festbankett zu Opiumhöhle, von Armeehubschrauber zu Nachtklub, stürzt sich auf Sophie (Andrea Wenzl) oder Kumpel Ekart (Franz Pätzold) genauso gierig wie auf den nächstbesten Schweinekadaver und tritt – einmontiert in Francis Ford Coppolas über Leinwände flimmernden Vietnamkriegsfilm „Apocalypse Now“ – scheinbar direkt mit den Filmcharakteren in Dialog: Ein enormer physischer Kraftakt, der die geilen Berauschungsbilder, vor denen auch der intelligenteste und überzeugteste Antikriegsfilm nicht gefeit ist, immer wieder konsequent ins Kaputte dekonstruiert.

Das Bühnenbild wird zerlegt wie das westliche Selbstbild

Dekonstruktionsarbeit am westlichen Selbstverständnis – tatsächlich ein zentrales thematisches Motiv im aktuellen Theaterjahr – hatten im Laufe des Festivals bereits vier grandiose Burg-Schauspielerinnen geleistet: In dem ebenfalls von Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ und Coppolas Film sich abstoßenden Wolfram-Lotz-Stück „Die lächerliche Finsternis“ waren sie beherzt zur Schredderung ihres eigenen Bühnenbildes geschritten. Und wie diese Sperrholzbretter, die ja sprichwörtlich die Welt bedeuten sollen, in einen gigantischen Häcksler wanderten – das ist womöglich das Bild überhaupt für das diesjährige Theatertreffen!

Hinter dem Lageplan vom fiktiven „Krisen“-Einsatzgebiet“, das der Lotz-Regisseur Dušan David Parízek in seiner kongenialen Inszenierung einmal auf den Overheadprojektor legen lässt, verbirgt sich ein Grundriss des Berliner Festspielhauses. Wie anmaßend ist es eigentlich, fragt also das Akteurinnen-Quartett bei seiner furiosen Bühnenbildzerlegung, als gut bezahlte Kulturbetriebsangestellte in der „Festung Europa“ politisches Theater zu spielen, während gleichzeitig Tausende ganz real an den Festungsgrenzen sterben? Und wie anmaßend wäre es – umgekehrt – auf diese Realitäten im Theater wiederum nicht zu reagieren? Die Frage, wie das Repräsentationsmedium par excellence umgehen kann mit Flüchtlingen, ohne sie dabei zu exotisieren oder paternalistisch zu entmündigen, was ja trotz besten Willens unter der Hand leider gern passiert im populär-wohlmeinenden Theaterformat der Betroffenenchöre, stand nicht umsonst mit Nicolas Stemanns klug reflektierender Jelinek-Inszenierung „Die Schutzbefohlenen“ am Festivalanfang.

Selbstbefragung des Theaters ist keine Nabelschau

So konnte man beim diesjährigen Theatertreffen vor allem feststellen, dass die Selbstbefragung des Theaters so ziemlich das genaue Gegenteil jener selbstreferenziellen Nabelschau ist, die ihm so oft vorgeworfen wird. Statt um den Bezug zur eigenen Körpermitte ringt die Bühnenkunst offenbar gerade ziemlich ernsthaft und geboten komplex um denjenigen zur Welt.

„Theater ist Krise“ wusste Heiner Müller. Und tatsächlich sah diese Krise selten so aufschlussreich und wohltuend wenig breitbeinig aus. Selbst unter Theatertreffenbesuchern, die Schwierigkeiten mit dem Programm hatten, drehten sich Foyer-Gespräche ausnahmsweise mal weniger darum, inwiefern dieser Ibsen aus Wien möglicherweise die bessere Einladung gewesen wäre als jener Vinterberg aus Stuttgart und warum überhaupt der seit Jahrhunderten vermeintlich auf alles eine Antwort habende Shakespeare fehle. Sondern tatsächlich – um Inhalte.

Mit fünf Uraufführungen fand sich unter den eingeladenen Produktionen so viel Gegenwart wie möglicherweise noch nie bei der jährlichen Branchenleistungsschau. Und die Texte, die der globale Krisen-Status-quo dabei hervorbringt und von denen vier gleich im Anschluss bei den Mülheimer „Stücken“, dem Best of der Gegenwartdramatik, zu sehen sind, erschöpfen sich mitnichten nicht in platter Instant-Lösungs-Dramatik. Vielmehr klopfen sie – wie „Die lächerliche Finsternis“ – historische Folien mit hohem IQ und Sprachbewusstsein auf die Gegenwart ab, kreisen um biografische Kriegserfahrungen wie „Common Ground“ vom Gorki Theater oder verweigern aus Achtung vor der Komplexität ihres Sujets süffige Konsumierbarkeit wie Ewald Palmetshofers Nazikollaborationsdrama „Die Unverheiratete“. Mag sein, dass das Theater beim diesjährigen Theatertreffen nicht immer perfekt aussah. Offene Ratlosigkeit ist angesichts des globalen Status quo allerdings eher ein Qualitätsmerkmal denn ein Makel.

Weitere Berichte zum 53. Berliner Theatertreffen auf www.tagesspiegel.de/theatertreffen

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