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Wilde Welt. Kurt Wanski zeichnet ab: Postkarten, Aktposter, Plakate. Das Ergebnis: persönliche, zugleich freie und genaue Wiedergaben. Hier das Abbild eines Tigers, vermutlich aus dem Tierpark.

© Illustration: aus dem Katalog „Ein gesundes Fest“, Hg. von Hans Scheib und Bernd Wagner, Edition Kronenberg, Berlin 1992

90. Geburtstag: Kurt Wanski: Kopfstand

Wilde Welt: Dem Berliner Blei- und Buntstiftzeichner Kurt Wanski zum 90. Geburtstag.

Wenn es hochkommt, kann das Leben 90 Jahre und länger währen. Und muss durchaus nicht nur Mühsal und Plage gewesen sein, obwohl bei Kurt Wanski die äußeren Lebensumstände darauf hinzudeuten scheinen. Er erblickte am 26. April 1922 das Licht der Welt, die in diesem Falle Altglienicke hieß und sich bis heute auf Berlin und seine nächste Umgebung beschränkt. Vom Kinderheim angefangen hat Wanski sein Leben fast ausschließlich in Anstalten zugebracht, vor allem in Nervenheilstätten, in die er als „Oligophrener mit dissozialen Tendenzen“ eingewiesen wurde und deren letzte das St.-Joseph-Stift in Weißensee wurde.

Und dennoch begegnete mir dort in den frühen achtziger Jahren mit Kurt Wanski ein Mensch, dessen Wachheit und Vitalität jeden, dem er sich näherte, wie mit einem Zauberstab zum Leben erweckte. Es war im Vorraum des Kinos „Toni“, und Kurt machte, um der von mir gleichfalls verehrten Kassiererin zu imponieren, gerade einen Kopfstand. Seine Beine ragten in die Höhe, aus den Taschen klimperten Münzen, Ringe, Orden, fiel eine Mundharmonika. Sie hob er auf, als er wieder auf den Füßen stand, und spielte darauf einen Gassenhauer, während ich seine auf dem Boden verstreuten Utensilien einsammelte. Darunter war auch eine dicke Rolle Zeichenpapier, von der er das Gummiband entfernte, als er mein Interesse bemerkte und mir die zum Teil beidseitig bezeichneten Blätter zum Kauf anbot.

Was ich dort sah, faszinierte mich derart, dass ich Kurt in mein Zimmer in der Streustraße einlud. Auf dem Sofa entrollte er seine Zeichnungen und vor mir sich eine Bildwelt, die seltsam vertraut und exotisch zugleich erschien. Kurt nämlich zeichnete mit Blei- und Buntstiften das ab, was vor unser aller Augen in Form von Postern, Filmprogrammen, Illustrierten- und Kalenderbildern lag, aber durch seinen Eigensinn, seine kindliche Freude am Spiel mit Farben und Formen einen unbekannt betörenden Glanz erhielt. Er feierte und persiflierte zugleich die Welt des Zirkus und des Friedrichstadtpalasts, des Tierparks und des Films, des katholischen und des marxistischen Festwesens der DDR; und als, ein knappes Jahr später, seine Zeichnungen erstmals passepartiert und gerahmt in einer Fabriketage des Prenzlauer Bergs zu sehen waren, offenbarten sie sich als Beispiele exquisiter Zeichenkunst.

Heute sind sie in den Sammlungen verschiedener Art-Brut-Museen zu Hause. Heute lebt Kurt nicht mehr im niedrigen Dachgeschoss des St.-Joseph-Stifts, sondern in einem der pastellfarbenen Häuschen, die hinter dem Krankenhaus gebaut wurden, wo früher ein Getreidefeld wogte. An diesem Donnerstag wird Kurt Wanski 90 Jahre alt. Und wenn ein erfülltes Leben bedeutet, anderen Menschen so viel als möglich Freude zu bereiten, so hat Kurt ein solches geführt. Dafür danken wir und wünschen mit einem seiner charakteristischen Bildtitel: EIN GESUNDES FEST!

Der Autor, Jahrgang 1948, lebt als Schriftsteller in Berlin. Letzte Veröffentlichung: „Berlin für Arme, Ein Stadtführer für Lebenskünstler“ (Eichborn).

Bernd Wagner

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