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Kultur: Abenteuerreise in einen düsteren Kosmos

Robert Wilson inszeniert am Berliner Ensemble: Bertolt Brechts "Ozeanflug" zusammen mit zwei Texten von Heiner Müller und Dostojewski - Traumtheater von Größe und Grenzen der MenschheitVON GÜNTHER GRACKDie einsitzige Propellermaschine, mit der Charles Lindbergh im Jahr 1927 in Amerika startete, um als erster Flieger den Atlantik zu überqueren, ein Abenteuer, das nach dreiunddreißigeinhalb Stunden in Le Bourget bei Paris ein glückliches Ende fand - im Theater des Berliner Ensembles ist dieses Flugzeug ein schlichter Tisch.Freilich, er steht nicht auf der Bühne, sondern schwebt hoch oben darüber vor einem himmelblauen Hintergrund.

Robert Wilson inszeniert am Berliner Ensemble: Bertolt Brechts "Ozeanflug" zusammen mit zwei Texten von Heiner Müller und Dostojewski - Traumtheater von Größe und Grenzen der MenschheitVON GÜNTHER GRACKDie einsitzige Propellermaschine, mit der Charles Lindbergh im Jahr 1927 in Amerika startete, um als erster Flieger den Atlantik zu überqueren, ein Abenteuer, das nach dreiunddreißigeinhalb Stunden in Le Bourget bei Paris ein glückliches Ende fand - im Theater des Berliner Ensembles ist dieses Flugzeug ein schlichter Tisch.Freilich, er steht nicht auf der Bühne, sondern schwebt hoch oben darüber vor einem himmelblauen Hintergrund.Der Mann, der, den Kopf mit einer enganliegenden Lederkappe bedeckt, an dem Tisch sitzt, tritt dabei unablässig in die Pedale eines einzelnen Rades, das sich unter der Tischplatte dreht - erst langsam, dann immer schneller.Angst vor dem Absturz treibt ihn an, denn die Gefahr, die ihn bedroht, hat einen Namen: "Ich bin der Nebel", tönt es aus dem Nichts, und während unten auf der Erde eine dunkle Gestalt, heftig gestikulierend, in die Luft greift, setzt die Natur ihre warnende Rede an den tollkühnen Menschen fort.Unverkennbar mit der Stimme Bernhard Minettis raunt sie im Ton einer sanften Grausamkeit: "Jetzt bist du 25 Jahre alt und / Fürchtest wenig, aber wenn du / 25 Jahre und eine Nacht und einen Tag alt bist / Wirst du mehr fürchten./ Übermorgen und 1000 Jahre noch wird es Wasser hier geben / Luft und Nebel /Aber dich wird es / Nicht geben." "Der Ozeanflug" von Bertolt Brecht, ein "Radiolehrstück für Knaben und Mädchen" aus dem Jahr 1929, bildet den ersten Teil von Robert Wilsons Inszenierung am Berliner Ensemble und leiht dem Unternehmen den Titel.Es folgen zwei Prosatexte anderer Autoren, einer später, einer früher entstanden: Heiner Müllers "Landschaft mit Argonauten" (1982) und Fjodor M.Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem toten Winkel" (1864).Der Sinn dieser szenischen Trilogie, für die Hans Peter Kuhn die Musik geschrieben hat, erschließt sich nicht auf den ersten Blick; es bedarf geduldigen Hinschauens und Hinhörens, um gewisse inhaltliche Korrespondenzen - Fluggerät, Ozeanüberquerung - zu erkennen und sich auf das Ganze einen Reim zu machen.Er lautet: Die menschliche Zukunftshoffnung, beflügelt vom technischen Fortschritt, hat nicht weit getragen, sondern ist nach katastrophaler Selbstzerstörung gescheitert auf einem wüsten Stern.Der einsame Räsoneur in Dostojewskis Kellerloch, ein armer, irrer Intellektueller, hat es schon im 19.Jahrhundert gewußt: "Man kann über die Weltgeschichte sagen, was man will, aber eines kann man nicht sagen: daß sie vernünftig ist." Das phantastische Bildertheater des Robert Wilson ist nun allerdings das strikte Gegenteil von dem pädagogischen Eros des Lehrstückeschreibers Brecht: Traum anstatt Aufklärung, Assoziationen anstatt Rationalismus.Der Zusammenprall läßt die Vorlage zersplittern, einzelne Teile sind nur noch in Umrissen sichtbar, andere ganz eliminiert.So fehlt die zentrale Szene, "Ideologie" betitelt, die von der "Anstrengung zur Verbesserung des Planeten" spricht, "die Maschinen und die Arbeiter" rühmt und dazu aufruft: "Beteiligt euch an / Der Bekämpfung des Primitiven!" Was man statt dessen zu sehen bekommt, ist ein Prozeß, wie aus Dunkel Licht wird - doch mit ungewissem Ausgang. Am Anfang herrscht Finsternis, erfüllt von einem leisen Knistern, einem anschwellenden und verklingenden Motorengeräusch.Allmählich zeichnet sich eine fahle Wand ab, die sich nach links zum Hintergrund hin perspektivisch verjüngt; eine dunkle Tür in ihrer Mitte wird von Szene zu Szene größer werden.Aus der Tiefe des Raums hat sich ein schlanker junger Mann gelöst, zum schwarzen Anzug trägt er lederne Stulpenhandschuhe: "Mein Name ist Charles Lindbergh." Sein Weg kreuzt sich mit dem eines anderen jungen Mannes, der, nackt, die Haut von mattem Goldstaub schimmernd, in einer Pose erstarrt, als wolle er zu einem Sprung ansetzen - ein Nachfahr des Ikarus? Solcher rätselhaften Erscheinungen führt Wilson noch einige mehr auf: Da ist ein Gespenst, das Minettis Nebel-Stimme mit ruckartigen Bewegungen seines Totenkopfes unterstreicht; ein kleiner Junge, der ein elektronisches, farbiges Licht ausstrahlendes Spielzeug herbeiträgt, eine Art fliegender Untertasse; eine weiße, wie ein Hase anzusehende Kasperlepuppe, die dem Piloten Lindbergh auf die Pelle rückt und den Übermüdeten mit Schlägen ihrer langen Ohren am Einschlafen hindert. "Auf unsern Kontinent zu / Seit mehr als 24 Stunden / Fliegt ein Mann": Europas Radiostimme wird verkörpert von Fritz Marquardt und Heinrich Buttchereit, die im Zuschauerraum in Balkonhöhe einander gegenübersitzen.Und dann ist es soweit: Lindberghs Landung als Kopfstand seines Darstellers Stefan Kurt, den Kopf selbst im Bühnenboden versunken, mit den Armen lebhaft fuchtelnd.Ein burlesk-ironischer Gag, auf den ein unheimlich vieldeutiges Finale folgt.Wilson läßt hier, während Lindbergh hochaufgerichtet seinen abschließenden Bericht über Größe und Grenzen seines Unternehmens erstattet, den uralten Gegner des Menschen, die Natur, leibhaftig in Erscheinung treten: Bernhard Minetti, starren Gesichts neben dem Flieger sitzend, hebt die rechte Hand, senkt sie wieder - stummer Einspruch, stumme Rücknahme? Wie Brecht in dem Atlantikflieger nicht ein heldenhaftes Individuum sah, sondern den Teil einer Mannschaft, nämlich der Arbeiter des Flugzeugwerks, so verstand auch Heiner Müller die namenlose Stimme, die in der "Landschaft mit Argonauten" hörbar wird, als Ausdruck eines Kollektivs.Aus den Seefahrern, die einst im griechischen Mythos als Kolonisatoren die Welt ausplünderten, ist nach einer atomaren Katastrophe eine "Parade der Zombies" geworden.Der Monolog, watend durch "Wortschlamm aus meinem / Verlassenen Niemandsleib", kulminiert in der Passage, die mit der fliegenden Vernichtungswaffe den Bezug zu dem Brecht-Stück herstellt: "Das Theater meines Todes / War eröffnet als ich zwischen den Bergen stand / Im Kreis der toten Gefährten auf dem Stein / Und über mir erschien das erwartete Flugzeug / Ohne Gedanken wußte ich / Diese Maschine war / Was meine Großmütter Gott genannt hatten." Die Horrorvision einer abgestorbenen Welt übersetzt Wilson in ein Tableau vivant, in dem sich Leben, ein Rest-, ein Überleben, nur noch wie in Trance äußert.Eine pittoreske Steilküste unter kobaltblauem Himmel: Felsformationen aus schwarzem Basalt, in schiefen Säulen dicht an dicht aneinandergeballt.Die gottverlassene Gegend ist bevölkert von sieben stehenden oder sitzenden, knienden oder liegenden Frauen, jede in ihrer Pose erstarrt.Erst als eine von ihnen, eine bleiche Elfe in weißem Gewand, langsam, ganz langsam den Küstenstrich entlangwallt, gerät das Bild in mähliche Bewegung.Ein fernes Motorengeräusch, wir kennen es schon von Lindberghs "Spirit of St.Louis", erregt Angst - schreckhaft öffnet sich ein Mund, weitab spreizt sich ein Bein, hoch bäumt man sich auf, fällt hintenüber und erhebt sich wieder."Ich Wer ist das / Im Regen aus Vogelkot", läßt sich endlich eine Stimme vernehmen: Margareta Broich, ein Bleichgesicht auch sie, jedoch in schwarzem Gewand, bemächtigt sich eines Bodenstaubsaugers, offenbar des einzigen Relikts der zivilisierten Welt, das sich in diese Ödnis hinübergerettet hat, und damit ist gleichsam der Auftakt gegeben für eine Kakophonie dieser Weibervolksversammlung.Der Satz "Zoten stacheln das einsame Fleisch" stachelt zu einem aggressiven Crescendo an: "Stacheln, Stacheln!" tönt es durch gefletschte Zähne, dazu ein Knurren und Fauchen wie von einer Raubtierhorde.Am Ende, nachdem man wie unter lähmendem Zwang einzelne Wörter, ganze Sätze rückwärts (sträwkcür) artikuliert hat, sinkt das Tohuwabohu in sich zusammen, und um Ruth Glöss, die uns als Doyenne der Gruppe in wortlosem Ernst über die Rampe hinweg anblickt, wird es langsam dunkel. Mit dem Brecht/Müller-Kontrastprogramm könnte der Abend auch sein Bewenden haben.Es gilt jedoch noch, den Bogen zurück ins 19.Jahrhundert zu schlagen, zum Lebensekel des Intellektuellen in seinem Kellerloch.Der Extrakt aus dem Dostojewski-Roman ist verwoben mit szenischen Zitaten aus dem "Ozeanflug": Lindberghs Landung auf dem Kopf macht den Anfang, seine tastende Gestik, mit der er, die behandschuhten Hände ausgestreckt, sich durch die Finsternis kämpft, steht am Schluß.Stefan Kurt, ein Darsteller höchster Präzision bis in die Finger-, ja Zehenspitzen hinein, übernimmt den Monolog von Marquardt und Buttchereit, die ihn auf ihren Balkonplätzen angestimmt haben."Bewußtsein", hören wir, "ist eine Krankheit." Darauf hören wir, wie das metallische Sirren und Klirren eines Lifts lauter und lauter wird; wir sehen, wie aus dem Fahrstuhlschacht immer neue Bürohengste mit ihren Aktenköfferchen hervorquellen und im Gänsemarsch ihren Pflichten nachgehen; wir sehen und hören, wie der tapfere Heinrich Buttchereit nicht müde wird, mit großer Kraft ein und denselben Satz zu wiederholen: "Und deshalb bleibt nur der eine, lächerliche Ausweg - mit schmerzenden Fäusten gegen die Wand zu hämmern, wieder und wieder." Mit der zernichtenden Selbstkritik der Menschheit, "Wir sind Totgeborene", von Minetti aus dem Off mit Inbrunst vorgetragen, klingt der Abend aus und erklimmt damit dann doch noch einmal einen Höhepunkt. "Like the hell I will!" singt der Ozeanflieger einmal, entschlossen, sich gegen Nebel und Schneesturm aufzuschwingen, und tanzt dazu übermütig herum: Zum Teufel, ich will! Mit guter Laune hat auch Robert Wilson sein Vorhaben angepackt, der Düsternis dieses Triptychons zum Trotz, und es mit manchen grotesk-komischen Streiflichtern aufgehellt.Das Berliner Ensemble darf sich über einen schönen Erfolg freuen. Wieder am 30.und 31.1., 21., 23.und 24.2., 19.30 Uhr, am 22.2., 15 und 20 Uhr.

GÜNTHER GRACK

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