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Götterbeischlaf. Alkmene (Laura Tratnik) und Amphitryon (Guntbert Warns).

© Imago

„Amphitryon“ am Berliner Ensemble: Götter in der Krise

Katharina Thalbach inszeniert „Amphitryon“ am Berliner Ensemble: Kleists Identitätskrisendrama als vorweihnachtliche Schenkelklopfer-Posse.

Zwar zieht es dem Götterchef Jupiter gewaltig im Kreuz, wenn er im Berliner Ensemble gelenkschonend seinem Thron entsteigt. Auch die Zahnprothese bereitet offenbar Probleme. Aber so eine kleine altersgerechte Schunkeleinlage, die geht noch: „Ich muss mal wieder was erleben“, trällert der Alte. Im weiteren Verlauf dieses kleinen Musikantenstadls reimt sich „froh und jung“ auf „Seitensprung“. Oder, im elaborierteren Stadium des Abends, auch mal „arme Alkmene“ auf „hat Migräne“. Et voilà: Der Regisseurin Katharina Thalbach gelingt am BE damit in der Tat ein Parkett-Brüller nach dem anderen.

Hat ja seine Vorteile, Heinrich von Kleists Identitätskrisendrama „Amphitryon“ als vorweihnachtliche Schenkelklopfer-Posse für die ganze Familie zu inszenieren. Selten hatte man im Theater dieses extrem entlastende Gefühl, dass das Bühnengeschehen wirklich so gar nichts mit einem selbst zu tun hat – was ja angesichts der virulenten zeitgenössischen Ich-Problematik, die im Stück verhandelt wird, ein überhaupt nicht hoch genug zu schätzendes Verdienst ist!

Dieser "Amphitryon" ist ein krachledernes Identitätchen-Wechsel-Spiel

Bei Kleist stürzt Jupiter, der kurzzeitig die Gestalt des titelgebenden Feldherrn Amphitryon annimmt, um inkognito mit dessen Frau Alkmene schlafen zu können, bei der Rückkehr des echten Amphitryon alle Beteiligten in fundamentale Subjekt-, Wahrnehmungs- und naturgemäß Beziehungszweifel. Bei Thalbach indes schlägt man sich kurz die Hand vor den schreckgeöffneten Mund, wenn man plötzlich sein spiegelbildliches Alter Ego sieht – oder eben wahlweise vors Geschlecht, wenn man „mal wieder was erleben“ will. Ob der Thematik womöglich vorauseilend besorgte Fans des Hauses seien entwarnt. Der bewährte Zeigefinger-Schauspielstil des Peymann-BE erweist sich als hundertprozentig (identitäts-)krisenresistent!

Und weil „Amphitryon“ im griechischen Theben „vor dem Schlosse“ des Protagonisten spielt, hat Bühnenbildner Momme Röhrbein ein paar antikisierende Säulenreste mit einer Art Pappmaché-Akropolis im Hintergrund versammelt, zwischen denen sich hin und wieder eine Leinwand mit einem folkloristisches Liedgut klampfenden Gesangsduo auftut. Denn dem Trällern kommt in diesem krachledernen Identitätchen-wechsel-dich-Spiel die Ich- und Du-stabilisierende Rolle schlechthin zu. Für die zentrale Sexszene zwischen Jupiter und Alkmene, in deren Verlauf Herkules gezeugt wird, hängt dann ein familienfreundlicher Vorhang mit porentief reiner Satin-Anmutung bereit.

Katharina Thalbach greift nicht nur auf Kleist und Molière zurück, sondern auch auf Plautus

So ausdauernd gardinenstoffschwingend, -wallend und -raschelnd hat im Gegenwartstheater wirklich noch keiner dramatische Beischlaf-Nummern hingekriegt! Wann immer Kleists abgrundtiefes „Lustspiel“ von 1807 – eine Bearbeitung, die Molières „Amphitryon“ dezidiert auf die Identitätskrisenproblematik zuspitzt –, für Thalbachs Sause zu sperrig wird, kommt kurzerhand eine andere Stoff-Version zum Zug. Neben besagter Molière-Komödie greift die Regisseurin auch auf den „Amphitryon“ des römischen Dichters Plautus zurück – was dem Diener des titelgebenden Feldherrn, Sosias (Martin Schneider), hier die dankbare Kalauer-Gelegenheit offeriert, auf der Suche nach Amphitryons Haus ausdauernd die Wegmarkierung „Molière, Ecke Plautus“ vor sich hin zu murmeln.

Dort angekommen, lauert schon Jupiter-Kumpel Merkur (Raphael Dwinger), der sich aus seinem brustentblößten weißen Fummel in eine handfeste Wams- und Hütchen-Knechtsmontur geworfen hat, um seinerseits den Feldherren-Diener zu doppeln. Sosias nimmt aber nach anfänglichem Augenrollen – auch dies eine bewährte Spezialität des Hauses – selbst die buchstäblich hinterhältigen Analattacken Merkurs gelassen. Er kratzt sich einfach an seinem kunstvoll abstehenden Ohr und widmet sich sodann wieder der Spirituose, die er stets bei sich trägt.

Die Kleist’sche Ich-Problematik

Was einen aber an diesem Abend tatsächlich nicht so leicht loslässt, ist das Beuteschema der blondlockig schmachtenden Feldherrengattin Alkmene (Laura Tratnik). Klar: Der ausgesucht tapsige Rothaarperücken-Amphitryon, den Guntbert Warns hier spielen muss, lässt für den Götterbeischlaf genug visionäre Luft nach oben. Aber dass dieser spätpubertär-weinerliche Jupiter, der dann in Gestalt Martin Seiferts bei Thalbach de facto als amphitryonisches Inkognito-Surrogat auftaucht, eine derart handlungstragende Verzückung auslöst, ist – Chapeau! – ein echter Überraschungscoup.

Beim Berliner Theatertreffen war im Mai Karin Henkels „Amphitryon“-Gastspiel vom Schauspiel Zürich zu sehen, das die Kleist’sche Ich-Problematik qua Auflösung sämtlicher Figuren-Identitäten sozusagen ins bodenlose Unendliche multiplizierte. Bei Katharina Thalbach dagegen muss sich niemand um die Stabilität seines Egos Sorgen machen. Da selbiges zumindest im Falle des Feldherrn Amphitryon und seines göttlichen Doppelgängers Jupiter gern mal in einer schön historisierenden Ritterrüstung steckt, wird hier lediglich die Frage aufgeworfen, ob wir uns wirklich im (Inszenierungs-)Jahr 2014 befinden.

Wieder am 29.11. sowie 1. und 6.12.

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