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Die Mutige. Lenore Steller spielt die Küchenhilfe und Familienmutter Ellen, die endlich raus will aus dem Prekariat.

© Front Film

Analphabetismus: Lesen lernen

Stilles Porträt einer Analphabetin? Ein typischer Problemfilm? Hauptdarstellerin Lenore Steller macht aus dem Sozialdrama „Unbelehrbar“ ein kleines Ereignis.

Stellen Sie sich vor, Formulare und Hinweisschilder würden vor Ihren Augen als unentzifferbare Buchstabensuppe herumtanzen. Immer und überall drohte Angst vor Entblößung, eine berufliche Laufbahn so gut wie unmöglich. Genau so geht es Ellen (Lenore Steller), einer von geschätzten vier Millionen Analphabeten in Deutschland. Die Brandenburgerin ist 40 Jahre alt und kann trotz Schulbesuch immer noch nicht lesen und schreiben. Deshalb muss die als Küchenhilfe arbeitende Mutter zweier jugendlicher Kinder schon zum wiederholten Mal die Delegation (ja, wir sind in Ostdeutschland) zu einer Fortbildung ausschlagen. Die Verunsicherung sitzt tief. Doch zugleich reift der Entschluss, endlich etwas an der erniedrigenden Lage zu ändern.

Doch die Sache hat zwei Haken. Einmal müsste Ellen für begrenzte Zeit nach Berlin ziehen, weil vor Ort keine Alphabetisierungskurse mehr angeboten werden. Zum anderen ist Ellens an der Armutsgrenze lavierende Familie nicht gerade begeistert von ihren Ambitionen, obwohl vom beruflichen Aufstieg langfristig alle profitieren würden. Es ist nicht Ellens erster Versuch. Viermal schon hat sie einen ähnlichen Anlauf abgebrochen, jetzt glauben auch die Kinder nicht mehr wirklich an den Erfolg. Und Ehemann Rudi (Thorsten Merten als gutmütig klammernder Grobian) hat sich mithilfe von Gleichmut und Alkohol mit der Situation arrangiert. Ihm wäre es am liebsten, wenn sich gar nichts ändert. Aber Ellen bleibt diesmal stur. Eher unwillig wird sie vorübergehend von der Schwägerin aufgenommen, die eine großzügige aus Prä-Gentrifizierungszeiten übrig gebliebene Altbauwohnung in der schicken Mitte der Hauptstadt bewohnt.

Anke Hentschels Spielfilm „Unbelehrbar“ erzählt diese Geschichte eines weiblichen Aufbruchs in elliptisch gebrochener Geradlinigkeit und mit großer visueller Dichte, wenn sie Ellens Befindlichkeit in vielen Nahaufnahmen erfahrbar macht. Das Drehbuch von Anke Hentschel und Katharina Schendel schwächelt ein wenig bei den Dialogen und leidet an mancher Überdeutlichkeit, etwa wenn eine sich anbahnende Liebesgeschichte ausgerechnet an Buchstabenkeksen zerbricht. Überhaupt erweist sich die Affäre der 40-jährigen Mutter mit einem jungen libanesischen Imbissverkäufer als etwas zu dick aufgetragene MultiKulti-Großstadtromantik. Und auch die Tatsache, dass Ellen ausgerechnet im angesagten Kiez zwischen Tacheles und Torstraße landet, wo sich die Twens aus Resteuropa zum Kreativ-Abenteuerurlaub tummeln, überzeugt höchstens unter filmtouristischen Aspekten.

Doch solche Kritik macht die Hauptdarstellerin allemal wett. Lenore Steller ist es zu verdanken, dass „Unbelehrbar“ neben dem ungelenken Titel auch den zusammenfabulierten Plot und die Bürde des Themas einfach abschüttelt. Die ehemalige Schauspielerin des Berliner Ensembles macht aus dem Problemfilm eine grandiose One-Woman-Show, in den letzten Jahren war Steller viel zu selten zu sehen. Fein und unaufdringlich stattet sie die Figur der Ellen mit allen Registern der Emotion aus – vom verhuschten Nicken bis zum nervösen Zusammenbruch. „Unbelehrbar“ ist ganz ihr Film. Dass nach 96 Minuten auch noch ein leichtes, freies Ende folgt, lässt einen über die Schwächen dieser Produktion erst recht hinwegsehen. Silvia Hallensleben

fsk am Oranienplatz

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