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Hochkultur. Ein Archäologe präsentiert einen goldenen Pferdekopf, der im November 2012 entdeckt wurde.

© AFP

Archäologie in Bulgarien: Goldgräber im Orpheusland

Bulgarien ist das ärmste EU-Land. Archäologisch aber ist es ein Eldorado, die Hauptstadt Sofia ähnlich bedeutsam wie Rom oder Athen. Heiner Müller lernte hier die für sein Theater so wichtige Antike in eigener Anschauung kennen. Eine Erkundung.

Im äußersten Süden von Bulgariens Schwarzmeerküste, zehn Kilometer vor der türkischen Grenze, liegt Sinemoretz, zu deutsch Blaumeer. Es ist die vielleicht schönste archäologische Ausgrabungsstätte des Landes. Von den baulichen Brachialsünden der vergangenen Jahrzehnte ist der Ort ebenso wie vom Ballermann-Tourismus des „Sonnenstrandes“ weitgehend verschont geblieben. Der sich unter dramatischen Klippen erstreckende Sandstrand ist ein Naturjuwel, Wenn es laut wird, dann nicht von Menschenlärm, sondern vom Tosen des Windes. Aus dem Hinterland des Strandzha- Gebirges mit seinen Eichenwäldern mündet der Veleka-Fluss in die geschützte Bucht, und über den Dünen erhebt sich ein Hügel, dem Archäologen gerade seine Geheimnisse entlocken. Daniela Agre, Mitarbeiterin des Archäologischen Nationalinstituts und Grabungsleiterin, vermutet hier die Festung eines thrakischen Lokalherrschers, der um das dritte Jahrhundert vor Christus den Austausch zwischen den griechischen Siedlerstädten Mesembria (heute Nesebar) und Apollonia (heute Sozopol) im Norden sowie den am Marmarameer bis zum heutigen Istanbul gelegenen Häfen im Süden und dem thrakischen Hinterland des Gebirges kontrolliert haben muss.

Die frühesten dokumentierten Auseinandersetzungen am Pontus finden sich bei Herodot dokumentiert. Um 600 v. Chr. könnten die Perser gegen die Skythen vorbeigezogen sein. Wer weiß das schon genau? Vor zwei Jahren fand Daniela Agre auf dem gegenüberliegenden Hügel ein mit kostbaren Opfergaben ausgestattetes Mädchengrab – wahrscheinlich die Tochter oder Frau eines hohen thrakischen Würdenträgers. Das Hinterland, mit einem Prozent des Landesterritoriums zugleich einer der größten bulgarischen Nationalparks, ist mit seinen Ausläufern ins Gebiet der europäischen Türkei hinein besät mit derartigen „mogila“: hügelartigen Aufschüttungen, unter denen sich die Kuppelgräber der thrakischen Oberschicht befinden. Diese „mogili“ hat man erst in den letzten Jahrzehnten systematisch zu erforschen begonnen, obwohl sie sich weit in die Rhodopen und die thrakische Ebene, ja im Grunde über ganz Bulgarien hinweg erstrecken. Oft sind sie bereits in der Antike geplündert worden: Der Goldreichtum, die Schmuckverarbeitung, die noblen Waffen und Rüstungen der Thraker waren sprichwörtlich. Sie ließen sich mit ihren Tieren, ihrem Reitpferd und Jagdhund bestatten. Herodot berichtet von einem Brauch, bei dem die Lieblingsfrau des Fürsten in einem manischen Tanzritual gemeinsam mit dem Leichnam ihres Mannes verbrannt wurde.

Daniela Agre allerdings hält wenig von gewagten Hypothesen, etwa in Bezug auf die Sonnen- und Orpheuskulte. Was die Kultur der Thraker betrifft, will sie vor allem über Dinge reden, für die es anhand ihrer Ausgrabungen hinreichend Anhaltspunkte gibt. „Was wir mit Bestimmtheit wissen, ist, dass die Thraker eine große Muttergöttin verehrten, die in Athen als Bendis, andernorts als Kybele bekannt war. Sie verkörperte das thrakische Grundprinzip. Später kam der Reiterheros hinzu, den man immer wieder in verschiedenen Varianten auf Reliefs und Applikationen findet.“ Das Dionysische, Orphische, die Musen, Mars und Apollon, die den Thrakern zugeschrieben wurden, sind eigentlich schon eine Ableitung oder Interpretation ihrer ekstatischen, manischen Rituale, Feste und Gesänge.

Auf dem Hügel über dem Strand von Sinemoretz haben Agre und ihr Team unter anderem große Weinamphoren freigelegt; der Wein steht für die thrakische Kultur. „Letztlich bestätigt alles, was wir finden, genau das, was die Griechen über die Thraker schrieben.“

Wahrscheinlich hatten die Thraker um 500 v. Chr. sogar Kontakt zu den Ägyptern

Am Abend sitzen wir mit dem Team von Daniela Agre in einem Café hoch über dem Meer und schauen uns Ginka Tscholakowas Dokumentation über den Feuertanz im Strandzhadorf Bulgari an. Tscholakowa ist Filmemacherin, Künstlerin, Autorin, die seit Jahren zwischen Berlin und Sofia pendelt. Als Ehefrau Heiner Müllers von 1970 bis 1986 ist es ihr zu verdanken, dass Müller die für sein Theater so zentrale Anschauung des Antiken an lebendigen Orten kennenlernen konnte. Heute setzt sie sich mithilfe einer Stiftung für die Unterstützung, Rettung und Konservierung thrakischer Fundstücke und ihrer Ausgrabungsorte ein. Auch Daniela Agres „Baustelle“ in Sinemoretz ist auf diese Weise ermöglicht worden, wie in den Jahren zuvor auch schon ein Teil der mittlerweile berühmten Ausgrabungen des „bulgarischen Indiana Jones“, Georgi Kitov (1943–2008), der in atemberaubendem Tempo ein Königsgrab nach dem anderen ausgehoben hatte. Inzwischen heißt die Gegend zwischen Starosel und Kazanlak nicht mehr nur „Tal der Rosen“, sondern zu Recht „Tal der Könige“ und wird von Reisebussen angesteuert.

Ginka Tscholakowas Dokumentation ist ein künstlerisches und ethnografisches Vermächtnis ersten Ranges und erinnert an die epochalen Filme Maya Derens über den haitianischen Voodookult. Tscholakowa lässt Autoren zu Wort kommen, die im Feuertanz ein entferntes Echo des thrakischen Orphismus erkennen. Das Dorf hat einen nestinar oder eine nestinarka, die Tieropfer bestimmen und in ekstatischem Zustand prophezeien, wie man es aus den Orakel-Darstellungen der griechischen Antike kennt. Jedes Jahr zum 3. Juni, dem Tag des heiligen Konstantin, versammeln sich die Einwohner, um mit verzückten Schreien durch Kohlenglut zu tanzen.

Von der noch vor den Thrakern besiedelten Stadt und Orakelstätte Perperek mit ihren gigantischen Opferaltären und Felsengräbern, die unter dem Namen Perperikon inzwischen mehr und mehr Touristen anzieht, bis zu dem einsamen, schwer zugänglichen prähistorischen Versammlungsort Harman Kaya, den die Winde aus allen Richtungen umtosen, ohne dass es in der kargen Karstgegend mehr als ein paar Weiler mit Kuh- und Ziegenherden gäbe, gibt es im Süden Bulgariens viele faszinierende Zeugnisse der alten Kultur. Zu ihnen gehören auch das bereits 1931 entdeckte thrakische Kuppelgrab bei Mezek am ehemaligen Todesstreifen 300 Meter vor der griechischen Grenze, oder die im Wald versteckten Trümmer einer riesigen, von thrakischer bis römischer Zeit unterhaltenen Gräberstätte bei Malko Tarnovo zehn Kilometer vor der türkischen Grenze.

Kein Tag vergeht, an dem nicht ein neuer aufsehenerregender Fund vermeldet wird. Die Archäologen aber wissen: Es ist ein Kampf gegen die Zeit. Geht man selber nicht zu Werk, tun es die Grabräuber. Die Spuren ihres Geräts, mit dem sie, unterstützt von hochsensiblen Detektoren, der Erde ihre Schätze zu entreißen suchen, sind allenthalben sichtbar. Andererseits sind Archäologen durch Freimütigkeit, Prahlerei oder Geschwätzigkeit mancher Schatzgräber ihren eigenen Trouvaillen erst auf die Spur gekommen.

Selbst in der Metropole Sofia ist das Echo des archäologischen Eldorado zu vernehmen. Spuren der Stadt, die zur Zeit Konstantins des Großen den Namen Serdika trug, werden ausgegraben und vorgezeigt. Bei der neuen U-Bahnstation „Serdika“ sind soeben über 200 Meter römischen Pflasters freigelegt worden – das Vorzeigeprojekt der Kommune, die sich damit um den Status der europäischen Kulturhauptstadt 2017 bewirbt. Die neuen Ausgrabungen bringen ans Licht, welch ein Palimpsest das Pflaster Sofias ist. Darin steht es weder hinter Athen noch Rom zurück. Namen offenbaren, wie die Antike hinter dem Heutigen hervorspäht: Plovdiv, die Siebenhügelstadt, von der thrakischen Ebene umgeben, im Norden der Balkan, im Süden die Rhodopenkette, Bulgariens Tor zur Ägäis, war das thrakische Pulpudeva, mazedonische Philippopolis, römische Trimontium und osmanische Paldin.

Wassil Dobrev, der einzige bulgarische Archäologe, der an der Sorbonne lehrt und auch in Ägypten gräbt, erzählt von einem Skarabäus, der in Mugla in den Westrhodopen in den siebziger Jahren ausgegraben wurde und heute in der Provinzstadt Smolyan zu sehen ist: das einzige altägyptische Fundstück auf dem ganzen Kontinent, das in der Zeit zwischen 500–400 v. Chr. nach Europa kam. Es bestätige Herodots Bericht, wonach die Ägypter in Kontakt zu den Thrakern standen. Noch fehlen der Wissenschaft Beweise dafür, wie der Skarabäus damals in die Rhodopen kam. Aber wer behauptet, Archäologie sei eine tote Disziplin, der sollte nach Bulgarien gehen.

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