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Ein Schwede mit griechischen Wurzeln. Der Romancier Aris Fioretos, 56.

© imago stock&people

Aris Fioretos’ Roman „Mary“: Ratten auf den Kykladen

Eine Studentin rebelliert gegen das System - und landet im Folterkeller auf einer griechischen Insel. Aris Fioretos erzählt in seinem neuen Roman „Mary“ von der Allgegenwart diktatorischer Willkür.

Wenn ein Buch es nicht schaffe, unter die Haut zu gehen, hat Aris Fioretos einmal gesagt, brauche es gar nicht erst veröffentlicht werden. Jetzt hat der schwedische Schriftsteller einen Roman vorgelegt, dessen Geschehen sich schmerzhaft in den Leser einschreibt und ihn in eine Schutzlosigkeit treibt, die zugleich eine Kraft hervorbringt, die mitten im Schrecken wächst.

Was nach einem Paradoxon klingt, ist die große Kunst des Aris Fioretos. Seine Heldin Maria, genannt Mary, schickt er in die Folterkeller der griechischen Militärdiktatur, wo sie in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gequält und geschunden wird und sich doch den unzerstörbaren Kern ihres Selbst bewahrt. Fioretos lässt Mary ihre Geschichte selber erzählen. Sie ist 23, studiert Architektur und schließt sich den oppositionellen Freien Studenten an. „Nieder mit der Junta“, skandieren sie und verlangen „Brot, Bildung, Freiheit“ – bis das Militär die Hochschule stürmt und auch Mary festnimmt.

Es beginnt eine via dolorosa durch Gefängnisse, wo „der Geruch von Angst stärker ist als der Gestank von Körpern“, durch Folter und Einzelhaft. Bis Mary deportiert wird auf die berüchtigte Ratteninsel, die auch unter dem Namen „Die Verdammnis“ bekannt ist und vermutlich Gyaros beschreibt, eine der Kykladeninseln, auf der das Regime der Obristen damals ein Internierungslager betrieb.

Mary erträgt die Folter - und schweigt

Aris Fioretos, 1960 in Göteborg geboren, wuchs als Schwede mit einem griechischen Vater und einer österreichischen Mutter auf. Er lehrte in Deutschland und Amerika Literaturwissenschaft. Er hat Gedichte und Essays geschrieben und kluge Romane über das Leben von Exilgriechen, in denen er von Sehnsucht durchwobene Migrantengeschichten erzählt. Sein Vater war während der griechischen Militärdiktatur nach Schweden geflohen. Und in dessen Griechenland begibt sich der Sohn jetzt erzählend zurück – ohne dass es als Land benannt wird. Fioretos wollte wohl nicht allein über die Vergangenheit seines Vaterlands schreiben, sondern über die bedrohliche Allgegenwart diktatorischer Willkür.

Mary ist schwanger und will überleben. Sie will, dass das Sonnengeflecht, das sie in sich trägt, die Aprikose, der Pfirsich, eine Zukunft hat. Ihr Geliebter weiß noch nicht einmal, dass sie ein Kind bekommen. Und sie weiß nicht, ob er noch lebt. Er ist einer der Anführer der Freien Studenten. Aber sie wird ihn nicht verraten. Sie erträgt die Folter und schweigt.

Mary ist keine eiserne Heldin, hat eine Kraft, die von innen kommt, mit der man sich als Leser staunend verbindet. Sie hat Angst und lebt Mut. Mary leuchtet bis zum Schluss im Grau der Uniformen, der Gefängnismauern, des Himmels und des Meeres. „Für mich ist Grau“, hat Fioretos im Gespräch mit Durs Grünbein einmal gesagt, „die Farbe der Kontraste“.

Fioretos erzählt ohne Pathos, aber haarfein und unerbittlich

Im Gefängnis trifft sie auf Frauen, die sie pflegen, die ihr helfen und denen sie helfen kann. Es sind mehr Gesten des Mitgefühls als tröstende Worte. Eine geteilte Mandarine, ein Kräutersud auf den Wunden. Manche der Frauen sind nicht zum ersten Mal in der Gewalt der Folterknechte. Sie wissen, was es heißt, zur „Andacht“ gebracht zu werden oder „Teegebäck“ angeboten zu bekommen. Sie kennen die zynische Verharmlosung der männlichen Brutalität.

Aris Fioretos kann das, was am schwierigsten ist: einfach erzählen. Ohne Pathos und Angst vor Gewalt, Schmerz oder Zärtlichkeit versetzt er sich hier mit verblüffender Intensität hinein in die junge Frau und ihre Schwangerschaft, die Zeit der Diktatur, die Qualen. Er schreibt nicht nur haarfein und unerbittlich über ein System, das Menschenwürde mit Peitschenhieben, Elektroschocks und Vergewaltigungen auszumerzen sucht. Er erzählt vom Wind, vom Meer, von den Ratten, vom Müll. Und von der Liebe zwischen Mary und Dimos. Einer so leichten wie komplizierten Liebe, denn Mary ist eckig und kantig vor lauter Sehnsucht nach Geborgenheit. Panzerschrank nennt Dimos sie manchmal, weil sie nicht von sich reden mag. Sie schämt sich, von der anderen Seite zu kommen. Aus einer Familie, die zum Regime gehört. Ihre Mutter ist die Leiterin der schwarzen Archive, in denen die Akten der Sicherheitspolizei lagern. Mit 16 hat Mary das Familienverlies verlassen.

Sie ist eine kratzbürstige junge Frau von eigensinniger Zärtlichkeit. Dimos liebt sie. Er schließt sie auf. Und sie will ihn. Fioretos schreibt mit einem schönen, klaren Ernst von den Verletztheiten, von der rebellischen Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Verlässlichkeit zugleich.

Mary wird vor eine drastische Entscheidung gestellt

Im Gefängnis glaubt Mary zunächst noch an eine Zukunft. Aber sie baut sich kein Lebenshaus in den schlaflosen Nächten. Träume würden sie verwundbar machen. Weichheit kann sie sich nicht erlauben. Die darf sie nur nach innen zulassen, dort, wo das Kind in ihr wächst. Und dort glühen die Farben der Hagebutte, der Aprikose, des Granatapfels.

Es ist die feine Balance zwischen der lebendigen Erinnerung und der fast tödlichen Wirklichkeit, die Marys Präsenz ausmacht. Die Verwesungsgerüche, das Atmen des Meeres, die feuchten Strohmatratzen, der Himmel, das Heidekraut. Alles findet seinen Widerhall in Mary und einer Sprache, die genau ist und zart, menschenklug und bilderreich.

Erst als sie nach Monaten der Isolationshaft nicht etwa entlassen, sondern vor die Alternative gestellt wird, entweder den Vater des Kindes zu verraten oder das Kind zu verlieren, zerbricht sie fast. Und kann sich nicht mehr „gegen das dreckige Gefühl wehren, dass etwas dabei ist zu enden“. Sie trifft eine verzweifelte Entscheidung. Danach verbindet sie fast nichts mehr mit der Welt. Und sie fängt an, von sich zu erzählen, aufzuschreiben auf Papierfetzen, was sie in ihren 23 Jahren erlebt hat. „Es mag seltsam klingen, aber ich bin die Einzige, die erzählen kann, wie ich endete.“ Bewegt legt man das Buch aus der Hand und beginnt, in sich selbst nach den Reserven politischer und moralischer Courage zu suchen.

Aris Fioretos: Mary. Roman. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Hanser Verlag, München 2016. 352 Seiten, 24 €.

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