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Kultur: Arzneimittel unter Verdacht: Dosiertes Risiko

Arzneimittel sind ein bisschen wie Autos. Zunächst werden viele Prototypen getestet, und erst nach langwieriger und kostspieliger Entwicklungsarbeit kommt schließlich das Produkt auf den Markt.

Arzneimittel sind ein bisschen wie Autos. Zunächst werden viele Prototypen getestet, und erst nach langwieriger und kostspieliger Entwicklungsarbeit kommt schließlich das Produkt auf den Markt. Wenn sich dann herausstellt, dass die Konstruktion missglückt und gefährlich ist, war die Investition umsonst. So ist es dieser Tage dem deutschen Arzneihersteller Bayer ergangen, der seinen Cholesterin-Senker Cerivastatin, Produktname Lipobay, wegen tödlicher Nebenwirkungen vom Markt nahm.

Nach Informationen der amerikanischen Aufsichtsbehörde FDA ist es in den USA zu 31 Todesfällen durch Muskelzerfall (Rhabdomyolyse) in Zusammenhang mit der Einnahme von Lipobay (in den USA Baycol genannt) gekommen. In zwölf der Fälle hatten die Patienten zusätzlich einen weiteren Cholesterinsenker namens Gemfibrozil bekommen. In Deutschland soll es zu vier Todesfällen gekommen sein, doch ist ein Zusammenhang mit Lipobay bisher nicht endgültig geklärt. Seit 1997 sind sechs Millionen Menschen in 80 Ländern mit dem Wirkstoff Cerivastatin behandelt worden.

Cerivastatin gehört zu den Statinen. Diese Wirkstoffe hemmen die Bildung von Cholesterin, dem Herz-Übeltäter, in der Leber. Seit Einführung der Statine ist bekannt, dass diese Muskelgewebe angreifen können - warum, weiß man noch nicht. Die Ärzte können das feststellen, indem sie die Konzentration des Eiweißes Kreatinkinase im Blut messen. Kreatinkinase stammt aus Muskelzellen; ist es erhöht, deutet das auf Muskelzerfall hin. Der wiederum kann zu Nierenversagen führen. Aber er ist selten. In klinischen Studien kam es bei insgesamt 50 000 Patienten, die mit Statinen behandelt wurden, nicht zu einem einzigen Todesfall.

Warum also die Todesfälle durch "Baycol"? John Jenkins von der Aufsichtsbehörde FDA schätzt, dass das Risiko im Falle dieses Präparats zehnfach höher liegt als bei anderen Statinen. "Baycol hat keine Vorteile gegenüber anderen Statinen. Aber es birgt ein Risiko, und deshalb kann es nicht länger als sicher gelten und vermarktet werden."

Unter deutschen Arzneiexperten hat die Rücknahme Cerivastatins eher Überraschung ausgelöst. Dass das Bayer-Produkt gefährlicher als seine Konkurrenten ist, glaubt man nicht so recht. Es sei "ganz lange bekannt", dass man ein Statin-Präparat wie Lipobay nicht mit Gemfibrozil zusammen verordnen dürfe, sagt der Herzspezialist Frank-Ulrich Beil von der Lipid-Ambulanz des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. "Damit erhöht sich das Risiko um das 20- bis 50-fache." Zwar wüssten die meisten Ärzte ganz gut über die Medikamente Bescheid, die sie verschreiben würden. "Aber von den Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arzneien haben manche Kollegen zu wenig Ahnung", kritisiert Beil. Seiner Meinung nach sind andere Cholesterin-Senker nicht weniger gefährlich.

Wenn es nach Beil ginge, würde Lipobay auf dem Markt bleiben, allerdings mit einer Dosisbeschränkung auf höchstens 0,3 oder 0,4 Milligramm täglich. Denn das Risiko des Muskelzerfalls steigt mit der Dosis. Wie sein Kollege Beil sieht auch Eckart Fleck vom Deutschen Herzzentrum Berlin eine mögliche Ursache der Todesfälle deshalb in zu hoher Dosierung. "Es gab in den letzten Jahren einen Trend, die übliche Dosis um das Drei- bis Fünffache zu überschreiten", sagt Fleck. "Es war schick geworden, den Cholesterin-Wert unter 180 zu drücken. Bayer hat auf diesen Trend gesetzt." Fleck vermutet, dass es "ein Dosis-, kein Substanzproblem ist".

Ironie der Geschichte: Bayer hatte damit geworben, dass sein Cholesterin-Senker weniger Nebenwirkungen als die Konkurrenz haben würde, weil die Wirkstärke besonders groß und die Dosis deshalb eher niedrig war. Eine Tagesdosis des Bayer-Produkts Cerivastatin liegt bei 0,3 Milligramm, von den Konkurrenzwirkstoffen Lovastatin und Simvastatin sind jeweils 40 Milligramm nötig, also mehr als das Hundertfache. Dass aber starke Wirkungen auch starke Nebenwirkungen zur Folge haben können, hatte man dabei offenbar übersehen.

Mit der Idee von dem "Mikro-Statin" (Bayer-Werbung) hatte das Unternehmen versucht, in den 90er Jahren vom rasch expandierenden Markt für Cholesterin-Senker zu profitieren. Statin-Wirkstoffe wie Lovastatin, Pravastatin und Simvastatin erregten Aufsehen unter den Medizinern, weil sie in großen, sorgfältig angelegten Untersuchungen mit Tausenden von Patienten das Herzrisiko deutlich senken konnten - bei im Allgemeinen vertretbaren Nebenwirkungen.Cerivastatin war dagegen ein typisches Nachahmer-Präparat, im Fachjargon "Me-too" genannt.

Fachleute wie der Herzspezialist Beil setzen trotz der Aufregung um Lipobay weiterhin auf Statin-Präparate, die bis jetzt eine große Erfolgsgeschichte der Arzneiforschung sind. Und Beil weist darauf hin, dass die Präparate ihre Zukunft noch vor sich haben: "Mit steigendem Wohlstand und Lebenserwartung wird auch der Markt in China und Indien größer und größer werden."

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