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Kultur: Auf ewig

Die Gezeichneten: Meinhard Starks Gespräche mit entlassenen Gulag-Häftlingen

Es war ein Stalinpreisträger des Jahres 1946, der als einer der ersten Sowjetautoren die Folgen des stalinistischen Terrors zur Sprache brachte: Wenjamin Kawerin, der 1956, zwei Jahre nach Ilja Ehrenburgs „Tauwetter“, in seinem Roman „Das doppelte Porträt“ die Geschichte eines aus dem Gulag entlassenen, aber noch nicht rehabilitierten Wissenschaftlers erzählt. Das Schicksal der ehemaligen Häftlinge – Schätzungen sprechen von 13 bis 14 Millionen Überlebenden des Gulag – blieb allerdings bis zum Ende der Sowjetunion ein weitgehend verdrängtes Thema. Die Archive blieben geschlossen, Rehabilitierungen erfolgten zögerlich, an Haftentschädigung war nicht zu denken.

Daran hat sich einiges, aber keineswegs alles geändert, seit die Öffnung der russischen Archive unter Boris Jelzin durch dessen Nachfolger ausgebremst und die Erinnerungsarbeit weitgehend den Betroffenen und ungeliebten Bürgerrechtlern wie denen von „Memorial“ überlassen wurde. In den anderen Ländern des ehemaligen Sowjetreichs – besonders in Litauen, Polen und der Bundesrepublik als Erbin der DDR – gibt es weniger Grund zu staatlicher Zurückhaltung bei diesem Thema, auch wenn selbst dort noch gesellschaftliche Widerstände Aufklärung und Wiedergutmachung behindern.

In Deutschland geht es dabei auch um ein spezielles Tabuthema der DDR: die in den Gulag verschleppten mehrere tausend Opfer der sowjetischen Militärtribunale nach 1945. Sie teilten dort das Schicksal nicht nur der Kriegsgefangenen, sondern auch der in Lagern überlebenden deutschen Opfer innersowjetischer Säuberungen, der letzten von rund 8000 Kommunisten im Moskauer Exil. Die wurden bei ihrer Rückkehr in den 50er Jahren, zumeist in die DDR, wenigstens mit „Überbrückungsgeld“ und bevorzugter Wohnungsvergabe entschädigt, aber ebenso oft bespitzelt und zum Schweigen verpflichtet wie ihre nicht rehabilitierten Leidensgenossen. Nicht wenige von ihnen zogen es vor, gleich oder nach den ersten schlechten Erfahrungen in der DDR in die kapitalistische Bundesrepublik zu gehen. „Jeder Dritte der zwischen Oktober und Dezember 1955 Zurückgekehrten“, schreibt Meinhard Stark in seiner Studie über die Gulag-Heimkehrer, „verließ bis Jahresende die DDR“.

In der DDR konnten sich die „Ehemaligen“ bis 1990 nur heimlich, meist unter Beobachtung der Stasi treffen wie der Kreis um Kreszentia Mühsam, die nach Russland emigriert und dort bis 1955 mehrfach in Haft war. Sie war die Witwe des Dichters Erich Mühsam, den die Nazis schon 1934 im KZ ermordet hatten. In der Bundesrepublik war es die Schwester des Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer, die sich der weiblichen Gulag-Heimkehrer annahm und zu regelmäßigen Treffen in ein Dahlemer Gemeindehaus einlud. Bis Ende der 80er Jahre erschienen in der Bundesrepublik immerhin 80 Erinnerungen von Gulag-Insassen, darunter die viel gelesenen Bücher von Margarete Buber-Neumann, Susanne Leonhard und Joseph Scholmer.

Trotzdem gibt Stark seiner Studie den Titel „Die Gezeichneten“, denn von ihrem Lagerschicksal gezeichnet blieben die Überlebenden des Gulag überall und bis heute. Mehr als 100 von ihnen hat er in Mittel- und Osteuropa befragt, von Deutschland bis Kasachstan, dessen Hauptstadt Karaganda als Haupstadt der Verbannten schlechthin galt. Hier lebe, befand der Chef der kasachischen Staatssicherheit 1950, „eine bedeutende Anzahl von politischen und kriminellen Verbannten, aus dem Lager Entlassene, Repatriierte und andere zweifelhafte Personen“. Nur wenige von ihnen blieben freiwillig dort, weil sie im oder um das Lager Lebenspartner gefunden oder eine bescheidene Existenz begründet hatten.

Unter den Heimgekehrten, die Stark in Bild und Gesprächsberichten vorstellt, ist kaum einer jünger als 80, die Jüngsten sind Jahrgang 1930. Manche sind sogar zweimal im Gulag gewesen wie der 84-jährige Litauer Balys Gajauskas, der insgesamt 35 Jahre im Lager und 18 Monate in Verbannung zubrachte. Die Verbannung konnte von den Sondergerichten des NKWD sogar „auf ewig“ verfügt werden. Die Hälfte der Lagerhäftlinge blieb für fünf bis zehn Jahre hinter Stacheldraht, ein Viertel noch länger. Tatsächlich „auf ewig“ blieben dort 4,5 Millionen – als Tote.

Meinhard Stark:

Die Gezeichneten.

Gulag-Häftlinge nach der Entlassung.

Metropol Verlag,

Berlin 2010. 432 Seiten, 24 Euro.

Hannes Schwenger

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