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Visionär. Friedrich Kiesler 1959 mit einem Modell des „Endless House“.

© Irving Penn

Ausstellung: Der Martin-Gropius-Bau würdigt den Universalkünstler Friedrich Kiesler

Friedrich Kiesler war ein Utopist. Von seinen Architekturentwürfen wurde nur ein einziger Bau realisiert. Seine Ideen wirken trotzdem bis heute nach.

Seine Architekturentwürfe wurden, bis auf einen, nicht gebaut. Seine Designermöbel gingen nicht in Serie. Berühmt wurde er außerhalb von Insiderkreisen auch nicht. Aber Friedrich Kieslers wortstarke, mit Witz und Furor formulierten Manifeste wurden gelesen, seine Bücher gedruckt. Und seine Ideen wirken bis heute nach. Der Mann ist ein Phänomen.

Eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, konzipiert von der Wiener Nachlassstiftung des Universalkünstlers und Utopisten, beleuchtet seine Ideen und Projekte. Sie will zeigen, wie aktuell Kiesler angesichts von Transdisziplinarität, Mobilität und dem Crossover zwischen Design und Wissenschaft ist. Historische Fotos, originale Entwurfsskizzen, nachgebaute Architekturmodelle und Stahlrohrmöbel, farbige Aquarelle und plastische Studien bietet die materialreiche Schau auf. Viel zu lesen gibt es auch.

1890 in Czernowitz als Sohn einer jüdisch-orthodoxen Familie im damaligen Österreich-Ungarn geboren, 1965 in New York gestorben, navigierte Kiesler durch die Zentren der Avantgarde. Er startet in Wien, tangiert Berlin, reüssiert in Paris, schifft sich 1926 nach New York ein und bleibt mit seiner Frau Stephanie dort. Sie sorgt für regelmäßiges Einkommen, er verdingt sich anfangs als Schaufenstergestalter. Und lässt seine Ideen fliegen. Gattungsgrenzen und starre Denkmuster ignoriert Kiesler.

Sein Debüt als Bühnengestalter hatte er in Berlin 1923 mit einem elektromechanischen Bühnenbild für Karel Čapeks Roboterdrama W.U.R. gegeben und sich hier sogleich mit der Avantgarde vernetzt. Auch als Ausstellungsgestalter sorgt er für Furore, indem er rotlackierte Lattenroste, Pfosten und Regale konstruktivistisch verschraubt und als modulare Präsentationsform propagiert: „dergestalt (...), dass die Raumarchitektur die Besucher zwingt (...), sich mit jedem einzelnen Objekt auseinanderzusetzen. Budget: 4000 Francs“, erklärt Kiesler 1924 sein „Leger-Träger“-System. Der nächste Schritt ist eine frei von der Decke hängende Präsentationsstruktur, die Kiesler zugleich als Denkmodell für eine Stadt der Zukunft nutzt: „Ob die Mauern Ornamente haben oder nicht? Wir pfeifen auf die Frage! (...) Lasst die Mauern weg! (...) Wir müssen was zum Lachen haben!“

In Peggy Guggenheim trifft Kiesler eine Partnerin für seine Raumexperimente

In New York lässt er die rechtwinklig starren Konstrukte endgültig hinter sich. Nun proklamiert er den endlosen, frei fließenden Raum, sein Lebensthema. Das aus rauem Beton geformte und organisch zur Höhle gerundete Modell seines „Endless House“ von 1959 erinnert an eine eiförmige Höhle: Uterus der Avantgarde. Möchte man darin wohnen? Dass alles mit allem zusammenhängt, fasst Kiesler in die Designtheorie des „Correalismus“. In der experimentierfreudigen Peggy Guggenheim trifft er die Richtige, um seine irrwitzigen Ideen zu verwirklichen. Für ihre brandneue New Yorker Galerie „Art of This Century“ gestaltet Kiesler 1942 das legendäre Ausstellungssetting.

Frei im Raum verspannte Drähte tragen die abstrakten Gemälde. Die Werke der Surrealisten entfalten ihre suggestive Traumlogik in einem Saal, dessen gerundete Wände einem Raumschiff gleichen. Er ist als interaktives Modell rekonstruiert in der Ausstellung zu sehen. Die multifunktionalen Sitz- und Sockelmöbel, geformt wie Amöben, darf man sogar selbst testen. Überraschend bequem sitzt es sich auf dem surrealen Schaukelstuhl, der sich auch als Beistelltisch andient, aber nur für schmale Personen geeignet ist. Der Nierentisch lässt grüßen.

In seiner „Galaxy“-Serie der 1950er entpuppt sich Verwandlungskünstler Kiesler als Maler, der abstrakte Gemälde an Wand, Boden und Decke zu feinen Kompositionen rhythmisiert. Der letzte Raum gehört seinem späten Triumph, dem „Shrine of the Book“ in Jerusalem. Für die am Toten Meer gefundenen Schriftrollen des Alten Testaments gestaltete Friedrich Kiesler zusammen mit Armand Bartos eine höchst merkwürdige Raumschale. Kreisrund im Grundriss wölbt sie sich, außen strahlend weiß und von unablässig plätschernden Wasserstrahlen gekühlt, zu einer Kuppel, deren Form einem Topfdeckel gleicht.

Im Zentrum des nur unterirdisch zugänglichen Schreins dreht sich die kostbare Buchrolle elektrisch um ihre eigene Achse. 1965 konnte das Bauwerk eröffnet werden: Friedrich Kieslers einzig verwirklichter Entwurf. Ein erstaunlich symmetrisches Gebilde für einen Querdenker.

Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, bis 11. 6.; Mi bis Mo 10 – 19 Uhr. Katalog (Prestel Verlag) 29,90 €

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