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Zhang Ziyi spielt in „The Grandmaster“ Gong Er, die Tochter des Kampfkunstmeisters Gong Yutian.

© Berlinale

Berlinale-Eröffnungsfilm: Wer nicht umfällt, gewinnt

Mit dem Kung-Fu-Epos "The Grandmaster" geht die Berlinale heute los. Ein Gespräch mit Regisseur Wong Kar Wai und den Hauptdarstellern Tony Leung und Ziyi Zhang.

Zu den vergifteten Lobpreisungen misslungener Filme gehört die Formel, Cast und Crew hätten „sichtbar Spaß gehabt“. Im Klartext heißt das: Das Vergnügen ist ganz auf der Seite der Beteiligten. Nur beim Publikum kommt davon nichts an.

Spaß? Über die Vokabel können Tony Leung und Zhang Ziyi nur lachen. Denn die Dreharbeiten für „The Grandmaster“ waren die Hölle. Und erwiesen sich erst in der späten Summe als eine höchst eigentümliche Form von Paradies. Für das Ergebnis auf der Leinwand sollte das, im Blick auf oben genannte Maxime, immerhin Gutes bedeuten.

Zum Beispiel Tony Leung. Für Wong Kar Wais Lieblingsschauspieler, in Asien so berühmt wie der frühere Johnny Depp und der ewige George Clooney zusammen, sind die Jahre – tatsächlich: Jahre! – der Vorbereitung gepflastert mit Gips und medizinischen Bulletins. Nicht nur, dass Wong Kar Wai, der spätestens seit „In the Mood for Love“ (2000) im Regisseurs-Olymp wohnt, seine Schauspieler über ihre Rollen stets weitgehend im Unklaren lässt; mit ihm sind sie das Arbeiten ohne Drehbuch gewohnt. Diesmal aber sollten sie, wie es sich für einen richtigen Kung-Fu-Film gehört, auch richtig Kung Fu lernen.

Was das bei Wong Kar Wai heißt? Anderthalb Jahre Kampfkunsttraining für den Kung-Fu-Neuling, fünf Stunden pro Tag, mal in künstlichem Dauerregen, mal in der Sommerschwüle – und mittendrin brach Leung sich den linken Unterarm. Der Arzt verordnete fünf Monate Pause. „Aber danach hätte ich wieder bei null anfangen müssen“, erinnert Leung sich beim Gespräch im kuschelig geheizten Pariser Luxushotel. Also trainierte er mit dicken Bandagen weiter, und am ersten Drehtag – „Ich hatte eine Szene mit fünf, sechs Stuntmen“ – brach nach drei Stunden Kämpferei der schlecht verheilte Knochen vollends durch.

Tony Leung will lieber nicht mehr daran denken, wie sein Regisseur die Nachricht von nun unabwendbar fünf Monaten Zwangspause seines Hauptdarstellers aufnahm. Dafür weiß die zarte Zhang Ziyi, in Asien so berühmt wie Scarlett Johansson und Natalie Portman zusammen, noch genau, was die Umstellung des Drehplans mitten im Winter für sie bedeutete. Statt in den Süden Chinas, wo nahe Hongkong die besonnten frühen Jahre des Kampfkünstlers Ip Man inszeniert werden sollten, ging es, bei minus 30 Grad, ersatzweise in die Mandschurei. „An der härtesten Szene auf einem Bahngleis haben wir zwei bis drei Monate geprobt“, erinnert sich die seit „Tiger & Dragon“ kampfkunsterprobte Schauspielerin, „und immer, wenn wir in einer Pause unsere Klamotten öffneten, kam da richtig Dampf raus.“

Erleichtert lassen die Stars nun stattdessen Dampf ab. „Das war mein letzter Actionfilm“, verkündet die 33-jährige Zhang Ziyi, die an allerlei alten Wunden laboriert. „Ich werde älter.“ Der 50-jährige Tony Leung will erst mal „lange Ferien“ machen, zeigt sich aber angesichts der „spirituellen Seite“ von Kung Fu fundamental beeindruckt. Diese Erfahrung wohl hat ihn auch schlimmste Strapazen ertragen lassen – etwa als Wong Kar Wai mitten in den wochenlangen Proben der im Sturzregen stattfindenden Eingangsszene plötzlich meinte, ein weißer Hut stünde seinem Hauptdarsteller doch besser als ein schwarzer.

Tatsächlich, wer bei Kung-Fu-Filmen nur an ewige Prügelszenen denkt, deren Beteiligte vorzugsweise in Zeitlupe durch fette Fensterrahmen krachen und auf dem betonharten Boden der Tatsachen landen, steht schnell unter dem Verdacht abendländischer Ignoranz. „Zwei Worte. Horizontal und vertikal. Ein Fehler: horizontal. Sei der Letzte, der aufrecht steht, und du gewinnst.“ Das ist die unmissverständliche Kampf-Definition des Grandmasters Ip Man, dessen Leben Wong Kar Wais Film in erster Linie beleuchtet. Aber es gibt nicht nur Ip Mans in aller Welt verbreitete Wing-Chun-Variante des Kung Fu, sondern auch Baji sowie Bagua mitsamt der tödlichen Kunst der „64 Hände“, die die von Zhang Ziyi verkörperte Filmfigur von ihrem Vater lernt. Und war der nicht zudem ein Meister im Xingyi, wie das Film-Presseheft dankenswerterweise ergänzt?

Zehn Jahre brauchte das Projekt des Jury-Chefs

Wong Kar Wai, wie Tony Leung fühlbar ergriffen von den philosophischen Dimensionen der Kampfkunst, geht in seinen Deutungen noch weiter. Für Wing Chun, sagt er, mag noch gelten, die kürzeste Distanz zwischen zwei Punkten sei die Gerade – eine Einschätzung, die auch Besitzer geometrischer Restkenntnisse mühelos teilen. In anderen Kung-Fu-Denkschulen heiße es allerdings, die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten sei die Zeit, „und das kann man auch auf das Leben anwenden“. Mit seiner Filmarbeit macht Wong Kar Wai eher die umgekehrte Erfahrung. Unvergessen etwa, wie er mit „2046“, immerhin Wettbewerbsbeitrag in Cannes, erst während des Festivals irgendwie fertig wurde. Auch die Peking-Premiere von „The Grandmaster“ musste mehrfach verschoben werden, bevor sie Anfang Januar endlich stattfinden konnte.

Knapp zehn Jahre trug sich der Regisseur mit seinem Riesenprojekt, so lange, dass zwei Kollegen aus dem Regiefach in der Zwischenzeit mal eben ihre eigenen Ip-Man-Biopics vorlegten. Wong Kar Wai stört das nicht weiter; auch dass ihm Kameramann Christopher Doyle wie schon bei „My Blueberry Nights“ (2007) wegen anderer Verpflichtungen absagen musste, quittiert er gleichmütig: „Wir sind immer noch Freunde.“ Nur dass er sich mit dem absichtsvollen Plural-Titel „The Grandmasters“ nicht durchsetzen konnte, worin auch die extrem wichtige Zhang-Ziyi-Filmfigur eingeschlossen gewesen wäre, betrübt ihn nachhaltig. Andererseits ist dem deutschen Publikum damit immerhin der mögliche Quoten- Verleihtitel „Großmeisterinnen und Großmeister“ erspart geblieben.

Wie gelungen ist nun aber das mit umgerechnet knapp 40 Millionen Euro für chinesische Verhältnisse superteure und superspäte Arbeitsergebnis, das schon in der Startwoche in China einen Großteil der Produktionskosten einspielte? Im Blick auf die Berlinale-Eröffnung verzichten wir hier auf eine Vorab-Kritik. Das Echo aus China tönt einstweilen eher gemischt: Begeisterung über die Actionszenen, Zweifel an Dramaturgie und Struktur, selbst nach den Maßstäben des hierbei ohnehin zum Vagabundieren neigenden Regisseurs. Zhang Ziyi wiederum berichtet in Paris von „leidenschaftlichen intellektuellen Debatten im Internet“. Der Film gelte in China längst als „kulturelles Phänomen“.

Das Festivalpublikum kann ab heute selbst das Werk in Augenschein nehmen, das der Jury-Präsident mitgebracht hat und das folglich außer Konkurrenz läuft. Und dabei Wong Kar Wais drei Hauptkriterien für einen guten Film, soeben in Paris kundgetan, am aktuellen Beispiel überprüfen. „Original, sincere, well made“ müsse ein Film sein, um aussichtsreich beim Kunstkampf um den Goldenen Bären mitzumischen – was sich mit „thematisch ursprünglich, aufrichtig und formal überzeugend“ annäherungsweise übersetzen ließe.

Jahrelang hatte Berlinale-Chef Dieter Kosslick Wong Kar Wai umworben, was aber, sagt der Regisseur, just an der hartnäckigen Arbeit in Sachen „The Grandmaster“ scheiterte. Gern hätte er seinen Film auch bei den „so aufregenden Midnight Screenings“ asiatischer Filme im Forum gezeigt; nur sind die längst Berlinale-Legende. Als Jury-Chef übrigens hat Wong Kar Wai einschlägige Erfahrung. 2006 gewann in Cannes unter seiner Leitung Ken Loach mit „The Wind That Shakes the Barley“ die Goldene Palme – vor Bruno Dumonts „Flandres“, Pedro Almodóvars „Volver“ und „Babel“ von Alejandro González Iñárritu.

Premiere heute, 7.2., (kein Kartenverkauf) 19.30 Uhr im Berlinale Palast; 8.2., 15 Uhr (Friedrichstadt-Palast) und 20 Uhr (Haus der Berliner Festspiele). – Im Fernsehen laufen: „2046“ (Donnerstag 0.10 Uhr im RBB) und „In the Mood for Love“ (Freitag 22.35 3sat)

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