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Treffpunkt der Boheme. Dreharbeiten vor dem Romanischen Café, 1930. Das Lokal ist ein Schauplatz von Grüns Roman.

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Berliner Kultur: Hauptstadt der Plänemacher

Lili Grün war Jüdin, Berlinerin, Schauspielerin, Autorin. Ihr Schicksal - 1942 wurde sie nach Weißrussland deportiert und ermordet - wäre beinahe ebenso in Vergessenheit geraten wie ihr Roman "Alles ist Jazz". Ein kleiner Verlag hat ihn wiederentdeckt und neu verlegt.

Der Zeitgeist steckt in den Details, in der Sprache. In Wörtern wie „Weltschmerz“, „Donnerwetter!“, „Expresskarte“ oder „Wedekinddarstellerin“. In Filmtiteln wie „Jagd nach Rita“ oder Tänzen, die „Die Abstraktion“ oder „Rationalisierung“ heißen. Euphorie ist zu spüren in diesen Formulierungen, eine Begeisterung, die allem Neuen gilt. Vor allem dem Jazz. Jazz ist mehr als Musik, Jazz ist ihr Lebensgefühl, deshalb kommt, als die jugendlichen Helden ein Kabarett gründen, nur ein Begriff dafür in Frage: „Jazz“. „So wollen wir heißen, so wollen wir sein. Es ist der Rhythmus, der aus unseren Maschinen entstanden ist, der Rhythmus, in dem wir armen Hascherln schlecht und recht groß geworden sind und gehen gelernt haben.“

„Alles ist Jazz“ heißt der Roman, der im Berlin der frühen dreißiger Jahre spielt. Als er im März 1933 im Wiener Zsolnay Verlag herauskam, hieß er noch „Herz über Bord“. Den Titel verkaufte die Autorin Lili Grün zwei Jahre später an den Komponisten Eduard Künneke, der dann eine Operette so nannte. Grün, die aus einer jüdischen Familie in Wien stammte und Anfang der dreißiger Jahre als Schauspielerin in Berlin lebte, wurde 1942 nach Weißrussland deportiert und dort ermordet. Ihr Berlin-Roman geriet in Vergessenheit, der Name der Autorin tauchte allenfalls noch in germanistischen Fachlexika auf.

Dass Lili Grün nun wiederentdeckt wird, ist der Literaturwissenschaftlerin Anke Heimberg zu verdanken. Sie fand ein altes Exemplar von „Herz über Bord“ auf einem Flohmarkt, war begeistert vom Sprachwitz, den schlagfertigen Dialogen und dem neusachlichen, pathosfreien Tonfall, der an Gabriele Tergit, Erich Kästner und Mascha Kaléko erinnert. „Ich wusste, dass ich irgendetwas mit diesem Buch machen musste, das viele Leser verdient hat“, sagt sie. Heimberg steckte die Verlegerin Britta Jürgs mit ihrer Begeisterung an. In deren kleinem Berliner Aviva-Verlag ist nach „Alles ist Jazz“ nun auch der zweite Grün-Roman erschienen, „Zum Theater!“, ein kapriolenreiches Backstagedrama über eine Jungschauspielerin, die in der Provinz vom Ruhm träumt. Ein Band mit Gedichten soll folgen.

Das Berlin, von dem Lili Grün in „Alles ist Jazz“ erzählt, ist eine Stadt im Aufbruch, bevölkert von lebenshungrigen jungen Künstlern und Plänemachern. Vieles erinnert an das heutige Berlin und seine Kreativszene, nur dass sich um 1930 die Bohème nicht in Kreuzberg oder Mitte, sondern im Neuen Westen trifft, am Kurfürstendamm und in seinen Nebenstraßen. Zu den Schauplätzen gehören das legendäre Romanische Café gegenüber der Gedächtniskirche, die Künstlerkneipe „Lunte“ in der Rankestraße, das mondäne Ku’damm-Restaurant „Roberts“, der Gloria-Palast und die Volksbühne sowie die „Sternenbar“ in der Budapester Straße, ein Lesben-Club.

Vom Glamour ist allerdings wenig zu spüren in der Reichshauptstadt, die Weltwirtschaftskrise hat auch viele Schauspieler, Musiker und Autoren arbeitslos gemacht. Die Heldin Elli, eine 21-jährige Nachwuchsdarstellerin, war mit den größten Hoffnungen aus Wien nach Berlin gekommen, kann sich dort aber nur mühsam über Wasser halten. Ähnlich wie Irmgard Keuns „kunstseidenes Mädchen“ hatte sie „ein Glanz“ sein wollen, nun macht sie schon der Blick in ein Kaufhaus-Schaufenster melancholisch: „Man muss sich beschämt von diesem spiegelnden Glas abwenden, denn der Anblick einer unschönen, abgespannten Frau ist das endgültige Todesurteil.“

Zu den Geldsorgen kommen „Robertsorgen“, Auseinandersetzungen mit ihrem Freund Robert, einem Studenten. Am Anfang ist ihre Liebe leidenschaftlich: „Bis jetzt ist man noch so wenig zum Sprechen gekommen, man hatte noch so viel zu küssen.“ Doch weil Robert in ihr immer nur seine „kleine Frau“ sehen will, trennt sich Elli von ihm. „Ich möcht’ mein Herz in Aufbewahrung geben / Hat denn kein Mensch Verwendung für mein Herz?“, singt sie. Das „Jazz“-Kabarett muss schließen, Elli kehrt zurück nach Österreich. Sie ist gescheitert, aber auch frei.

„Alles ist Jazz“ trägt unverkennbar autobiografische Züge. Lili Grün hatte 1931 in Berlin mit Freunden das Kabarett „Die Brücke“ gegründet, das mangels Zuschauererfolgs nach wenigen Wochen den Betrieb einstellen musste. Sie trat in Sketchen auf und trug selbst geschriebene Gedichte vor. „Sie trägt Erotik, sehr persönlich und sehr belustigend“, lobte ein Kritiker. Zu den wenigen Zeitgenossen, die ihr literarisches Talent erkannten, gehörte die Schriftstellerin Hilde Spiel. Sie behielt Lili Grün als „rührendes Mädchen“ in Erinnerung, deren Lebensgeschichte von den Nationalsozialisten „weggewischt“ worden sei, „als hätte es sie nie gegeben“.

Lili Grüns Romane „Alles ist Jazz“ und „Zum Theater!“ (jeweils 215 S., 18 €) sind im Aviva-Verlag erschienen.

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