zum Hauptinhalt
Der jugoslawische Schriftsteller Danilo Kiš (1935-1989).

© Hanser

Biografie von Danilo Kiš: Fahrplan für Geister

Das Jahrhundert der Massaker und der Verschwundenen: Über den jugoslawischen Schriftsteller Danilo Kiš hat Mark Thompson die meisterhafte Biografie "Geburtsurkunde" geschrieben.

Im Jahr 1989, als Jugoslawien bereits zerfiel, besuchte Danilo Kiš eine internationale Konferenz, wo man ihn als „serbokroatischen Schriftsteller“ vorstellte. In seiner Antwort ironisierte er nationalistische Etikettierungen und Identitäts-Schubladen: „Ich bin kein serbokroatischer Schriftsteller, ich bin eher Montenegriner oder ein Schriftsteller aus der Vojvodina, bis zu einem gewissen Grad auch ein jüdischer Schriftsteller, mit einem eindeutig ungarischen Familiennamen. Mein Familienname bedeutet ‚klein‘, obwohl ich 1,85 Meter groß bin. Ich bin kein Südafrikaner oder Tscheche, ich bin ein jugoslawischer Schriftsteller. Viele jugoslawische Schriftsteller akzeptieren diese Bezeichnung nicht. Sie sind lieber Serben oder Kroaten, aber niemals beides zur gleichen Zeit.“

In diesem Zitat, das der Historiker und Osteuropa-Experte Mark Thompson in seiner großartigen Kiš-Biografie überliefert, hat man ein kleines Selbstporträt des Autors, eine Momentaufnahme seines freien, freimütigen Geistes. Der neben Ivo Andrić und Aleksandar Tišma bedeutendste Schriftsteller Jugoslawiens nach 1945 wäre in diesem Jahr achtzig Jahre alt geworden. Als Sohn eines ungarischen Juden und einer Montenegrinerin wurde er 1935 in Subotica geboren. Er wuchs auf im ungarischen Grenzgebiet; die letzten zehn Jahre lebte er im Pariser Exil, wo er 1989 an Lungenkrebs starb, gerade 54 Jahre alt. Seine Werke sind gekennzeichnet durch die Präzision und Poesie ihrer Sprache. Und sie sind imprägniert vom strengen Ethos der Moderne, in der die Sprache und die Formen des Erzählens selbst zum Thema und literarische Konventionen zu Todsünden wurden.

Dieses Formbewusstsein zeichnet auch Thompsons Biografie aus. Zu oft leidet das Genre ja an Routine und Einfallslosigkeit; die bloße Chronologie gibt den Erzählfaden vor. Thompsons Buch dagegen ist nicht nur sehr gründlich recherchiert, es betreibt auch ein raffiniertes Spiel mit der Form, indem es sich als fünfhundertseitiger Kommentar zu einem dreiseitigen Prosatext von Kiš präsentiert: der „Geburtsurkunde“, seiner komprimiertesten autobiografischen Auskunft. Thompson zerlegt diese „Geburtsurkunde“ in Sätze und Halbsätze, und jedem widmet er ein eigenes Kapitel. So wechseln auf wunderbar plausible Weise Ausführungen zu Herkunft und Familienüberlieferung mit solchen zur Geschichte des Judentums in Ungarn, den literarischen Einflüssen oder den musikalischen Passionen. Eingefügt sind sieben „Zwischenspiele“, die Darstellungen und Analysen der wichtigsten Bücher von Danilo Kiš liefern.

„Frühe Leiden“, „Garten, Asche“ und „Sanduhr“, zusammengefasst unter dem Titel „Familienzirkus“ und gerade in einer edlen Neuausgabe (Hanser Verlag, 912 S., 34,90 Euro) erschienen, gehören zu den besten und zugleich diskretesten Werken über den Holocaust, der in ihnen nicht benannt wird, aber den dunklen Horizont bildet. Als Erzählteppiche, gewebt aus „Ironie und Ekstase“, bezeichnet sie Thompson. Die ersten beiden Bände sind voller Proust’scher Sensibilität der Beschreibungen, voller Mythen der Kindheit, voller Farben, Gerüche, Bilder – und Komik.

Der Vater von Danilo Kiš entkam dem Massaker von Novi Sad

Im Zentrum von „Familienzirkus“ steht die Vatergestalt Eduard Sam, ihr für das Kind unerklärliches Verschwinden und Wiederauftauchen, ihre unermüdliche Arbeit am mysteriösen „Fahrplan“. Dieses Buch, an dem der früh pensionierte Eisenbahninspektor Eduard Kiš tatsächlich schrieb, das aber kaum mehr als eine Datensammlung war, wurde für Danilo Kiš zum Fetisch. Auch der Vater, von dem er so wenig wusste, hatte geschrieben! Im Roman wird aus dem „Fahrplan“ ein wucherndes Opus magnum, ein enzyklopädisches Werk.

Anfang 1942 begingen ungarische Einheiten in Novi Sad ein Massaker mit 2000 Toten. Auch die Familie Kiš wurde heimgesucht, der Vater musste sich bei 30 Grad minus an der Donau unter die Menschen einreihen, die nackt zum Erschießen anstanden. Ihre Leichen wurden in ein Eisloch geworfen. Als Eduard Kiš an die Reihe kam, war das Loch im Eis bereits voll mit Toten, es wurde Pause gemacht, dann kam der Befehl zum Abbruch der Aktion. Diese traumatische Erfahrung, die in den Werken nur angedeutet wird, muss die Unrast des Vaters noch gesteigert haben. Der Sohn hat das Massaker von Novi Sad als „Anfang“ seines Schreibens bezeichnet.

James Joyce ist der Autor, der Kiš am stärksten prägte

Die Familie floh zu Verwandten ins ungarische Dorf Kerkabarabás, wo sie offenbar nicht mit ganz offenen Armen empfangen wurde. Unaufhörlich liegt der Vater im Streit mit seinen Schwestern, hält Klagereden, als wäre der Familienunfrieden die späte Nachwirkung einer fernen, an ihm begangenen Urschuld niemals wieder gutzumachen. Verraten und verkauft, gedemütigt und betrogen – das ist sein Lebensgefühl, aus dem sich sein Gebärdenrepertoire des Anklagens und Scheltens ergibt, das Kiš so unnachahmlich zur Darstellung bringt.

Eduard Sam ist ein neurotisch gewordener Leopold Bloom, zurückversetzt in die mitteleuropäische Lebenswelt seiner ungarischen Vorfahren. Verschämt verdeckt er mit der Hand den gelben Stern, den er als Einziger im Dorf tragen muss. Gedankenversunken streift er durch Wälder und Felder, wie ein Schlafwandler am Tage. Ein erleuchteter, verzweifelter, verstörter Mann, der schon Zeiten in Heilanstalten verbracht hat, ein wüster Trinker und Choleriker. Danilo Kiš gewinnt dieser zerrissenen Existenz eines der größten Vaterporträts der Weltliteratur ab.

Als Ungarn sich in den dreißiger Jahren Hitler-Deutschland annäherte und eine von Jahr zu Jahr verschärfte antijüdische Gesetzgebung verfolgte, versuchten sich viele Juden durch christliche Taufe dem Unheil zu entziehen. Eduard Kiš war assimiliert (der Großvater hatte 1902 den Namen Kohn zu Kiš magyarisieren lassen), scherte sich nicht um Religion und hatte eine Nicht-Jüdin geheiratet. Anfang 1939 ließ er den dreijährigen Danilo zudem in einer orthodoxen Kirche taufen. Aber weil die neuen Gesetze „Rasse“ und nicht „Religion“ zum Kriterium machten, waren konvertierte Juden am Ende nicht weniger bedroht. Danilo Kiš allerdings war überzeugt, dass ihm die Taufurkunde 1944 das Leben rettete, als ungarische Polizeikräfte unter Leitung des Eichmann-Kommandos in zwei Monaten fast eine halbe Million Juden erfassten und nach Auschwitz deportierten, wo die meisten sofort in die Gaskammern kamen, zehntausend Menschen am Tag. Sein Vater starb dort zwei Tage bevor das Horthy-Regime die Transporte aufgrund internationaler Proteste einstellte.

Danilo Kiš zog 1979 nach Paris, wo er zehn Jahre später starb

James Joyce ist der Autor, der Kiš am meisten prägte. Die ebenso komplexen wie kuriosen Frage-Antwort-Spiele in seinem Meisterwerk „Sanduhr“ haben ihr Vorbild im „Ithaka“-Kapitel des „Ulysses“. Mit Joyce verbindet Kiš auch die Liebe zu aberwitzigen Aufzählungen. Und wie Joyce erschien ihm die Psychologie des realistischen Romans schal und unbrauchbar. Das hat mit dem Kernmotiv seiner Werke zu tun, dem „Verschwinden von Menschen“. Sein Vater sei nicht in Auschwitz gestorben, vielmehr sei er dort verschwunden, denn die genauen Umstände seines Todes seien nicht bekannt. Der Vater steht in seinem Werk für Millionen andere: Menschen, die nicht Herren ihres Schicksals waren und von denen sich deshalb nicht erzählen ließe, als wären sie handlungsmächtige Subjekte, deren aufgezwungene Schicksalswege etwas mit ihren seelischen Motiven und Antrieben zu tun hätten. So bleibt die Figurenpsychologie bei Kiš eine Leerstelle. Hat man diese Eigenart erst einmal begriffen, wird seine Erzählweise faszinierend.

In „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“ widmet sich Kiš nach den Opfern des Faschismus denen des Stalinismus. Die Titelgeschichte erzählt das Leben des Revolutionärs Boris Dawidowitsch Nowskij: eine dieser russischen Mischungen aus Genie und Bombenleger, Salon-Dandy und zynischem Ideenmenschen. Am Ende stirbt er bei einem Fluchtversuch aus dem Gulag. Gehetzt von seinen Verfolgern, springt Nowskij in einen Kessel mit flüssiger Schlacke, wo er förmlich verdampft. „Er hinterließ einige Zigaretten und eine Zahnbürste“, lautet der lakonische letzte Satz. Ein weiterer „verschwundener Mensch“ im totalitären Jahrhundert. Beeinflusst von Borges, entwickelt Kiš in diesem Buch Verwirrspiele von Fakten und Fiktionen. Wahrhaftigkeit – so die Essenz seiner späteren Poetik – erreiche Literatur am ehesten, indem sie sich dem Stil und Ton nicht fiktionaler Texte anverwandle.

„Ein Grabmal“ schlug 1976 ein, zu Zeiten, als der Weltkommunismus noch im Zenit seiner Macht stand, Tito größtes Ansehen genoss und in Westeuropa die Sympathie für den Sozialismus in seiner idealen oder realen Form eine intellektuelle Selbstverständlichkeit war. In Jugoslawien gab es einen viel beachteten Plagiatsprozess, der angefeindete Autor erlebte im Freundeskreis Fälle von Verrat. Neben der privaten Misere – seine Ehe wurde wegen seiner Seitensprünge geschieden – war es der Hauptgrund dafür, dass er ab 1979 in Paris lebte.

Dort gab er den charismatischen Jugoslawen und Balkan-Macho, eine auffallende Erscheinung mit dunkler Löwenmähne, leidenschaftlich liebend, trinkend, Gitarre spielend, Nächte durchphilosophierend. Und kettenrauchend – kaum ein Foto, auf dem er nicht die Filterlose zwischen den Fingern hält. Die Tage aber verbrachte er in der Bibliothek, sammelte Material für weitere Bücher und haderte bisweilen mit seinen Ursprüngen. Mitteleuropäische Autoren, schrieb er einmal, seien dazu verdammt, ein Klavier und ein totes Pferd hinter sich herzuziehen. Das Klavier repräsentiere die Überlieferung der westlichen Kunst und Literatur, während das tote Pferd für das Erbe von Kämpfen und Niederlagen, Worten und Melodien stehe, die kaum jemand im Westen verstehe.

Mark Thompsons Meisterwerk der Biografik bringt uns nicht nur einen wiederzuentdeckenden Autor nahe, es macht auch tote Pferde springlebendig.

Mark Thompson: Geburtsurkunde. Die Geschichte von Danilo Kiš. Aus dem Englischen von Brigitte Döbert und Blanka Stipetić. Hanser Verlag, München 2015.

512 Seiten, 29,90 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false