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Dialog mit den Toten. Heiner Müller im Hörspielstudio, 1987. Foto: Gueffroy/dpa

© picture-alliance/ ZB

CD-Edition: Zart wie ein Stein

Denkbewegungen wie ein Mahlstrom, der Literatur, Geschichte, Welt unaufhörlich in Sprache verwandelt: 36 Stunden Heiner Müller auf CD - Ein Wiederhören mit dem großen Dramatiker

Da ist sie wieder: Die fast unbewegte Stimme, die immer wieder Pausen und ein kurzes Räuspern einlegt, um sich sehr ruhig und mit zwingender Logik durch Sätze zu arbeiten, die mit größter Selbstverständlichkeit alle Denkgewohnheiten zur Implosion bringen. Sechzehn Jahre nach seinem Tod begegnet man dem Dichter Heiner Müller wie einem vertrauten Bekannten. Ein Gespenst, das aus einer mal nahen, mal sehr fernen Vergangenheit zu einem spricht.

Die Literaturwissenschaftlerin Kirstin Schulz hat die Archive durchforstet und im Berliner Alexander-Verlag sämtliche erhaltenen Tondokumente Müllers herausgegeben: Lesungen eigener und fremder Texte, kurze Statements, lange Interviews, von denen einige wirken, als könnte man dem Dramatiker beim Denken zuhören. Es sind Aufnahmen aus einem Vierteljahrhundert, von 1972 bis kurz vor Müllers Tod 1995, insgesamt 36 Stunden auf vier MP3-CDs, 36 Stunden des coolen Sounds des Apokalyptikers. Diese Edition ist der inoffizielle letzte Band der kürzlich beendeten Suhrkamp-Werkausgabe.

Hört man Müllers Stimme zu, geschieht etwas, was er immer als zentrale Funktion des Theaters verstanden hat. Ein Dialog mit den Toten. Seine Denkbewegungen gleichen einem Mahlstrom, der Literatur, Geschichte, Welt unaufhörlich in Sprache verwandelt und dabei einen Sog entwickelt, dem man sich schwer entziehen kann. Manchmal schrumpft Geschichte in Müllers Interview-Performances zur zynischen Pointe, etwa wenn er gut gelaunt erklärt, das Ende der DDR sei im Prinzip klar gewesen, als die „Bild“-Zeitung das Land anerkannte und darauf verzichtete, die DDR in Anführungszeichen zu setzen. Ein Sozialismus, den sogar „Bild“ respektiert, ist erledigt.

Die einzigen, die das nicht mitbekommen hätten, seien die westdeutschen Intellektuellen gewesen, erklärt Müller. Sie hätten in ihrem unbegründeten Hochmut den Fehler gemacht, die „Bild“ nicht zu lesen, dabei sei das Trash-Blatt doch das Beste, was die westdeutsche Literatur zu bieten habe. Sein Gesprächpartner, der Theaterwissenschaftler Henning Rischbieter, hat keine Chance gegen Müllers sarkastische Volten.

Aber oft haben Müllers Sätze auch die Härte und Beständigkeit von Steinen, keine bösen Witze, sondern apodiktische Setzungen, die klingen, als hätte nicht ein Einzelner, sondern Jahrhunderte Menschheitsgeschichte sie geformt. Diese unerschütterlichen Gewissheiten, die in Stein geschlagenen Müller-Orakelsätze, klingen heute gelegentlich etwas absonderlich. Etwa wenn Müllers marxistische Geschichtsteleologie den blühenden Kapitalismus ungerührt zur barbarischen Vorgeschichte erklärt, nichts als eine bunte Leiche, während er die Tristesse der sozialistischen Diktatur zum Vorschein Utopias verklärt. Einerseits. Andererseits ist Müller seiner Zeit Jahrzehnte voraus, etwa wenn er sich 1974 mit Leipziger Theaterwissenschaftlern über „die Spezifik unseres Wohlstandsbegriffs“ unterhält. Nichts anderes meinen die heutigen Debatten, die das Verständnis von Lebensqualität vom materiellem Wachstum abkoppeln wollen.

War Müller schon zu Lebzeiten ein Fremdkörper in Theater wie Literatur, fallen seine alten Interview-Statements heute erst recht aus dem Geblubber eines saturierten Kulturbetriebs heraus. Die Konsequenz, mit der er über Theater nachdenkt, ist das Gegenteil der gegenwärtigen, unverbindlichen Theatermoden. Für Müller ist Theater keine nette Abendunterhaltung, sondern der zentrale Ort, an dem eine Gesellschaft ihren Nachtseiten, ihren Konflikten und Träumen begegnet. „Dramatiker haben zunächst das Bedürfnis, zu erschrecken“, erklärt der Schreckensmann der deutschen Dramatik, der so höflich sein konnte. „Das Drama spielt sich eigentlich zwischen Bühne und Zuschauerraum ab.“ Wer sich auf Müllers Denken einlässt, ist für den Großteil des gegenwärtigen Theaters erstmal verloren.

Noch über die Schrecken der Kindheit spricht Müller mit größter Sachlichkeit: „Ich habe angefangen, Stücke zu schreiben, mit 14 oder so. Das war zunächst wahrscheinlich ein Versuch, in einen Dialog zu kommen, wenigstens mit mir selber oder mit der Realität, weil ich ziemlich isoliert aufgewachsen bin und mir dann wahrscheinlich die Dialogpartner selber herstellen wollte.“ Die Verhaftung seines Vaters, eines Sozialdemokraten, durch die Nazis schildert Müller ungerührt als „erste Szene meines Theaters.“ Das ist nicht Gefühlskälte, sondern die zur sachlichen Formel geronnene Verletzung.

Müller MP3, Heiner Müller Tondokumente 1972–1995, 4 MP3-CDs und Begleitbuch, 78 €, Alexander Verlag; Heiner-Müller-Nacht am 14. 5., im Kleinen Wasserspeicher, Diedenhofer Str., 22–6 Uhr; Müller-Filme in der Kulturspelunke Rumbalotte continua, Metzer Str. 9, ab 1 Uhr nachts.

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