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Nachruf: Christa Wolf: Irrtum als Weg

Skeptizismus war für sie das beste Mittel gegen die Selbstgewissheiten aller Ideologien. So blieb ihr die Hoffnung, dass es auch ein richtiges Leben im falschen geben könne. Zum Tod der Schriftstellerin Christa Wolf.

Von Gregor Dotzauer

Sie war die geborene Zweiflerin, und als solche ist sie am gestrigen Donnerstag mit 82 Jahren in Berlin auch gestorben. Christa Wolf verstand sich virtuos auf die Kunst des „Ja, aber“ und des „Nein, dennoch“, im Politischen wie im Privaten. Dass sie ihr die längste Zeit des Lebens in einem deutschen Staat nachging, der stets das Gute wollte und etwas Unheimliches schuf, hielt sie nicht davon ab, das Davor und das Danach mit der gleichen, im Zweifel physisch schmerzhaften Einlässlichkeit zu untersuchen. Sie erkundete ihren freimütig zugegebenen „Hang zur Ein- und Unterordnung“, der sie im Nationalsozialismus zur Führeranwärterin im Bund deutscher Mädel gemacht hatte, und sie hielt auf Distanz zum wiedervereinigten Deutschland, dessen westlicher Teil in ihr nur zu gern die zutiefst korrumpierte, sich an allen grundsätzlichen Fragen vorbeilavierende Staatsdichterin der DDR sehen wollte.

Ihr ging es immer nur darum, gerade den Irrtum als Weg zu begreifen. Skeptizismus war für sie das beste Mittel gegen die Selbstgewissheiten allen ideologischen Denkens, weshalb sie nicht ohne Hoffnung blieb, dass es auch ein richtiges Leben im falschen geben könne, weil viele richtige Leben ja auf Dauer in der Lage sein müssten, das umfassend Falsche zu korrigieren. In dieser Betonung der individuellen Verantwortung lag ihre Lauterkeit – und die Rechtfertigung einer utopischen Haltung, an deren anderem Ende ein apokalyptischer Zug lauerte. Vielleicht hat sich diese Gespaltenheit nie radikaler gezeigt als in ihrer Erzählung „Kassandra“ (1983), deren mythologische Hauptfigur zugleich die größtmögliche persönliche Nähe zur Autorin herstellen wollte – und der Umweg über die Antike die größtmögliche Gegenwärtigkeit. „Zurück zu den Müttern“ hieß damals die Empfehlung – ein Aufstand gegen das Patriarchat, in dem sie die einzige Chance sah, endzeitliches Unheil abzuwenden.

Christa Wolf, geboren am 18. März 1929, stammte aus Landsberg an der Warthe, dem heute polnischen Gorzow Wielkopolski. Ihre Eltern betrieben dort ein Lebensmittelgeschäft, bis die Familie im Januar 1945 vor der Roten Armee nach Mecklenburg floh. Im Jahr ihres Abiturs, sie war bereits Mitglied der FDJ, trat sie der SED bei, aus der sie erst im Juli 1989 wieder austrat, nahm ein Studium der Germanistik in Jena und später Leipzig auf und schrieb schließlich bei Hans Mayer eine Diplomarbeit über Hans Fallada. Von der akademischen Karriere, die er ihr anbot, wollte sie aber nichts wissen. Sie ging als Mitarbeiterin des DDR-Schriftstellerverbands nach Berlin, lektorierte im Jugendbuchverlag Neues Leben und im Mitteldeutschen Verlag, redigierte die Zeitschrift „Neue deutsche Literatur“ und tat sich als Literaturkritikerin hervor.

Ihr literarisches Debüt gab sie 1961 mit der „Moskauer Novelle“, einer in sozialistischer Biederkeit erstarrenden Liebesgeschichte zwischen einer Ost-Berliner Ärztin und einem russischen Dolmetscher. Von der Wucht, mit der zwei Jahre später ihr Roman „Der geteilte Himmel“ definierte, was zeitgenössische DDR-Literatur sein kann, ließ sie noch nichts ahnen. „Der geteilte Himmel“ folgt einerseits brav den Direktiven des von Walter Ulbricht vorgegebenen Bitterfelder Wegs, demzufolge die sozialistische Nationalkultur den zur Feder greifenden Kumpel braucht, der die Produktionsverhältnisse ausleuchten soll. Andererseits rüttelt Wolf gewaltig am Versprechen eines Neuen Menschen. Der Konflikt zwischen persönlicher Liebestragik und gesellschaftlicher Glücksherstellung wird hier auf eine Weise ausgetragen, die weder den Mauerbau übergeht – der Geliebte der im VEB Waggonbau Halle beschäftigten Protagonistin Rita setzt sich nach West-Berlin ab – noch die bürokratischen Hindernisse, denen auch die besten Ideen im Räderwerk des Kollektivs ausgeliefert sind.

Die kritischen Einwände wogten heftig, aber am Ende konnte sich die Partei mit dieser Darstellung nicht nur abfinden. Sie erkannte in Christa Wolf geradezu die Dichterin der Stunde – allerdings nur bis zum nächsten großen Roman. Die stark subjektive, kaleidoskopartige, multiperspektivisch zersplitterte Schreibweise von „Nachdenken über Christa T.“ (1968), die Wolfs Bücher künftig prägen sollte, entfaltete sich mit dem bitteren Ende eines Leukämietods hier zum ersten Mal und stieß bei den Oberen weder auf ästhetisches geschweige denn politisches Wohlgefallen. Erst die zweite Auflage wurde nicht mehr marginalisiert und setzte sich beim Publikum durch. Die DDR der späten Ulbricht-Jahre mag durch die Wirren des Prager Frühlings so herausgefordert gewesen sein, dass sie auf alle Diskussionen über weibliche Seelenhaushalte verzichten konnte. Aber man täuscht sich, wenn man Wolfs Auf und Ab in der Gunst der Oberen allein aus den Büchern ableiten wollte: Die Schriftstellerin lässt sich von der Staatsbürgerin nicht trennen.

1959 war sie vom Ministerium für Staatssicherheit als informelle Mitarbeiterin angeworben worden, bewährte sich als Zuträgerin aber nicht, weshalb die Stasi sie ab 1962 nicht mehr abschöpfte. Stattdessen wurde sie zum Ziel der Überwachung. Den drei harmlosen Berichten, die sie als „Margarete“ verfasste, stehen 42 Bände der Opferakte „Doppelzüngler“ gegenüber, in denen die Stasi von 1969 bis 1989 ihre Aktivitäten und die ihres Mannes Gerhard Wolf dokumentierte. Der literarische Funke, den sie 1990 mit der Erzählung „Was bleibt“ daraus schlug, führte vor allem zwischen Ost und West zu einer der heftigsten kulturellen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit.

Wolf erzählt in „Was bleibt“ mit der ihr eigenen tastenden Sorgfalt von dem „operativen Vorgang“, der sie, kurz nachdem sie 1976 eine Erklärung gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann unterschrieben hatte, erst recht ins Visier der Stasi brachte. Ein Kritikpunkt bestand darin, dass sie die Erzählung bereits 1979 geschrieben habe. Mit der Veröffentlichung erst nach der Wende sei sie also kein Risiko mehr eingegangen. Die Phalanx der Westkritiker, unter ihnen Frank Schirrmacher, Jens Jessen und Ulrich Greiner, hatte aber auch eine stellvertretende Abrechnung mit der Gesinnungsästhetik der bundesrepublikanischen Linken im Sinn: Es sollte der erste Schritt zu einem neuen Konservatismus werden.

Und wo stand Christa Wolf? Sie hatte schon andere Kämpfe überlebt, die von der Vitalität ihres ewigen Zweifels künden. So, wie sie 1965 beim 11. Plenum des Zentralkomitees der SED den Nihilismusverdacht gegen die Kulturschaffenden zurückwies, was sie die Kandidatur zum ZK kostete, appellierte sie noch am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz an die Menge: „Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!“ Aber der Preis für all diese Kämpfe war hoch. Sie, die erst 1988, wie sie in der Erzählung „Leibhaftig“ (2002) berichtet, einen Blinddarmdurchbruch erlitten hatte, dessen begleitende Immunschwäche sie fast das Leben kostete, wurde kurz nach dem Auftritt von einer Herzattacke überfallen – wie alles, worum sie sich sorgte, sofort auf den Körper übergriff. Das Psychosomatische ist ein wichtiges Element ihrer Literatur.

Lange bevor sie „Kassandra“ bei einer Poetikvorlesung an der Frankfurter Goethe-Universität vorstellte, war sie eine Figur, die in ganz Deutschland bewundert wurde – auch wenn sie ihre Stoffe aus dem Leben in der DDR gewann. Doch wie jede bedeutende Schriftstellerin überschritt sie die Grenzen ihres unmittelbaren Erfahrungsraums: mit „Kein Ort. Nirgends“, einem fiktiven Gespräch zwischen Heinrich von Kleist und Karoline von Günderode, mit den „Kindheitsmustern“ über das Aufwachsen unter Hitler oder der Novelle „Störfall“ über die Atomkatastrophe von Tschernobyl. Und doch büßte sie ihre Rolle nach dem Mauerfall ein Stück weit ein. Wer aber auch in 50 Jahren noch wissen will, wie es sich für die Gründergeneration anfühlte, im Staat der Arbeiter und Bauern zu leben, dem öffnet die Zerrissenheit dieser bedeutenden Autorin die Augen. Einen größeren Sieg konnte sie nicht erringen.

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