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Kultur: Damals in der Bleistreustraße

Die Seele vom Filmkunst 66: Nach fast 40 Jahren verlässt Franz Stadler seinen Charlottenburger Kiez

Mittendrin ist alles Gegenwart. Es ist Mittag im Kino, gerade läuft die „letzte Pressevorführung meines Lebens“, der Film heißt „Mein Glück“ – wie könnte er auch anders heißen bei einem wie Franz Stadler, der hier in Strickjacke und Cordhose so sonnig und durch nichts auf der Welt durcheinanderbringbar in einem seiner Cafésesselchen im Foyer sitzt. Noch ein paar Tage, dann ist Schluss, aber nur ab und zu weht einen das an: dass eigentlich alles getan und vorbei ist und Franz Stadler, das Programmkinourgestein, bald nicht mehr da.

Naja, ein paar Mal war er schon weg in der langen Zeit seit jenem 1. Oktober 1971, als er das fünf Jahre zuvor in Filmkunst 66 umbenannte Capri übernahm. Das erste Mal machte er 1993 Pause vom Berliner Kinomacherleben, da war das Trümmergrundstück-Gebäude an der Bleibtreu Ecke Niebuhr abgerissen worden. Und das zweite Mal vor zehn Jahren, da war er mit seinem 1995 eröffneten Zwei-Säle-Neubau gleich nebenan fast in die Pleite gesegelt. Also schlüpfte er als Theaterleiter in Sylt bei der Kinowelt unter, nur dass die ein paar Monate später selber pleite machte. Aber zählen diese Intermezzi, war Stadler jemals weg?

Seine Abwesenheiten zählt er selber recht genau mit, und deshalb hat er Jubiläen auch immer netto gefeiert. Mit trockenem Humor erinnert er, wie er und seine Frau Rosemarie das Kino auf Sylt aufbauten, und „zur Eröffnung im Herbst war die Saison vorbei“. Und mit diskretem Stolz verweist er darauf, wie sie bald ihr Filmkunst 66 zurückkauften und erst mal ganz ohne Angestellte neu anfingen, „ich hab’ vorgeführt, sie hat Kasse gemacht, gemeinsam haben wir geputzt“. Nur für das Publikum war bald alles wieder normal: die Stadlers, sie mit dem stets aufmerksamen Blick, er der Sanftstimmige, Umsichtige an ihrer Seite. So standen sie, ach was, so stehen sie schon immer hinter der Theke.

Kaufmann gelernt haben die beiden bei Hanns Eckelkamps Atlas Film, „da war ich 21 und sie 16“; die Liebe, die kam dann auf den zweiten Blick bei einer Wiederbegegnung gut 20 Jahre später. Schon länger als ein Jahrzehnt führte Stadler da das Filmkunst 66, hatte die finstere Ecke der „Bleistreustraße“, wie der Kiez damals wegen allerlei Schießereien genannt wurde, anfangs fast im Alleingang veredelt. „Das Café Bleibtreu war eine Zuhälterkneipe“, erinnert er sich, und rechts und links vorm einstigen Sexkino standen auch nach der Neueröffnung immer zwei Prostituierte. Als dann aber zu höchster und auch mittlerer Filmkunst plötzlich ein neues, junges Publikum strömte, „da verschwanden die beiden Säulenheiligen ganz von allein“.

Alte Zeiten, die der heute 70-Jährige gemütlich einsortiert. „Als wir anfingen, waren wir alle beseelt vom Entdeckergeist der Achtundsechziger. Und, das wichtigste, Macher, Publikum und Kritiker waren alle in demselben Alter.“ Heute sind die Stadlers ihrer Klientel weit vorausgewachsen, aber auch das Publikum ist behutsam gefolgt. Erst waren es die 20- bis 30-Jährigen, die sein Kino bevölkerten, jetzt hat sich das, wie Stadler schön ins Ungefähre formuliert, um „ein bis zwei Jahrzehnte nach hinten verschoben“. Und bei seiner Passion neueren Datums, dem Ballettfilm, den er unermüdlich für digitale Projektionen heranschafft, ist die Kundschaft meist noch ein bisschen älter.

Und, was hat sich sonst so verändert in den Jahren? „Alles!“ Alte Filme ziehen kaum mehr ins Kino, dafür gibt’s das Fernsehen. Die Kinowerbeanzeigen, mit denen Stadler früher schlau und individuell sein Publikum lockte: längst von den Verleihern normiert. Dass die Zuschauer früher von weither kamen, weil ein Film nur bei ihm lief? Heute strömt vor allem Charlottenburger Stammpublikum – und oft bekommt er im Gerangel um die Kopien nicht mal mehr die Filme, die er unbedingt zeigen will. Aber irgendwie geht’s und ging’s doch, vor allem mit attraktiven Sonderreihen – am dollsten 1984 beim „Donald-Duck-Festival“. Da hatte Stadler in der ersten Woche 5267 Besucher, er memoriert’s exakt wie Onkel Dagobert, „das sind Avatar-Zahlen“!

So plaudert sich das hin, quer durch die Zeiten. Dass er das Filmkunst 66 anfangs in „Action“ umbenennen wollte, aus lauter Liebe zum Genrefilm: Besser wohl, dass es nicht so kam. Schön auch, wie entspannt zwerchfellgestützt Stadler sich über Popcorn aufregen kann – „stinkt, macht Dreck, verunstaltet das ganze Kino“ –, weshalb er zur Freude der Kundschaft lieber einen guten Roten serviert. Auch unermüdlich seine Freude an selbst gebastelten Besuchertypologien. Die aktuellste? „Zuerst Frauen in ganzen Gruppen, dann Paare gruppenweise oder auch einzeln, und an dritter Stelle die Einzelgänger.“

So viele Augenblicksgefühle, so viel Gegenwart. Aber losreißen muss man sich doch, irgendwann. Und zieht deshalb, familienhalber, demnächst ins Westfälische, nach Rheda-Wiedenbrück. Natürlich prüft das wache, geübte Kinomacherauge den Standort schon von fern: 50 000 Einwohner, aber kein Kino am Ort, oha! Gewiss müsste man dort „Mainstreamware“ anbieten, andererseits liegt Gütersloh allzu nah, das wäre riskant … geben Sie’s zu, Herr Stadler, Sie haben mit dem Gedanken gespielt? Heitere Entrüstung, superspontan: „Nein!“

Und das Filmkunst 66, ohne die Stadlers? Natürlich haben die beiden ihr Haus sorgfältig bestellt – und an die Berliner Produzentin Regina Ziegler verkauft, die fürs Programm den mehrfach ausgezeichneten Belziger Kinobetreiber Sven Andresen verpflichtet hat. Irgendwann im Gespräch lässt der grundnüchterne Kinomacher doch eine gewisse Wehmut zu, die sich in einer Wehmut des Besuchers spiegelt, dass mit Franz und Rosemarie Stadler – spät, spät – noch ein Stück Berliner Westkiez geht. „Was ich am meisten vermissen werde“, sagt Stadler und träumt ins Dezemberlicht hinaus, „das sind die lauen Sommerabende, man sitzt draußen vorm Kino, Nachbarn kommen vorbei, man bleibt nicht allein“. Ja, so war das all die Jahre, abends das Kino zumachen in der Bleibtreustraße 12, wenn der letzte gegangen war, und dann die paar Schritte nach Hause in die Nummer 13, all die Jahre und vorbei.

Am Donnerstag, 30. Dezember, um 20. 30 Uhr läuft  „Franz Stadler’s Last Picture Show“, eine „cineastische Zeitreise mit den schönsten, komischsten, spannendsten, spektakulärsten und magischsten Szenen aus 37 Jahren Filmkunst 66“.

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