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Kultur: Das Jahr des Jahrhunderts

Kriegsalltag und Hochkunst: „1917“ – die große Ausstellung des Centre Pompidou in Metz.

Enorme Fortschritte verdankt die plastische Chirurgie dem Ersten Weltkrieg. Zum stehenden Begriff des Krieges wurden die geules cassées, die zerstörten Gesichter der Hunderttausenden von Soldaten, die durch Granatsplitter verwundet worden waren und ganze Teile des Gesichts eingebüßt hatten. An ihnen erprobte die Medizin ihre Fähigkeit zur Reparatur.

Fotografien, Wachsmoulagen und chirurgisches Besteck bilden den beklemmendsten Teil der Ausstellung „1917“, mit dem der vor zwei Jahren eröffnete Ableger des Pariser Centre Pompidou im lothringischen Metz die Reihe der Veranstaltungen zum Jahrestag des Kriegsausbruchs eröffnet. „La Grande Guerre“, wie die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) in Frankreich genannt wird, spielt dort eine viel größere Rolle im kollektiven Bewusstsein als in Deutschland, wo die Erinnerung an die Millionen Toten und Versehrten von 1914 bis 1918 durch NS-Regime und Zweiten Weltkrieg verdrängt worden ist. Metz, von 1870 bis 1918 zum Deutschen Reich gehörig und zum militärischen Unterpfand gegen Frankreich ausgebaut, liegt nicht weit entfernt von den Schlachtfeldern, von Verdun zumal, wo 600 000 Soldaten beider Seiten getötet und verwundet wurden – für kaum einen Kilometer Geländegewinn und erst recht keinen strategischen Vorteil.

Die Sinnlosigkeit dieses Schlachtens ist ein geeigneter Ausgangspunkt, um die Ausstellung „1917“ zu begreifen. Es geht um jenes Jahr, in dem mit dem Eintritt der USA auf Seiten der französisch-britischen Entente und der Russischen Doppelrevolution von Frühjahr und Herbst die Weichen für das 20. Jahrhundert gestellt wurden, zumal für dessen Kernzeit bis 1989/90. Die anfängliche Kriegsbegeisterung war längst aufgerieben in Stellungskrieg, Schützengräben und Materialschlachten. In Metz werden in anspruchsvoller Parallelisierung die künstlerische Entwicklung im Europa des Jahres 1917, zugleich aber Fronterfahrung und Propaganda bis hin zu den selbstgebastelten Souvenirs der „gemeinen“ Soldaten gezeigt. Hochkunst versus Alltag also, in dem das Sterben alltäglich ist, während Sinn und Ziel längst der Eigendynamik aller Armeehauptquartiere zum Opfer gefallen waren.

Verstörend ist, dass es überhaupt eine Hochkultur neben dem Kriegsgeschehen gab, und in so reichem Maß. Den Ausgangspunkt der mehrjährigen Recherche des Metzer Museumsteams bildete der Bühnenvorhang, den Pablo Picasso 1917 für das Ballett „Parade“ schuf – die Geschichte einer Clownstruppe, die um die Anerkennung des Publikums buhlt. Was für ein Thema, gerade in diesem Jahr! Doch die Leichtigkeit des Pariser Kulturbetriebs geht zeitlich einher mit grundstürzenden Veränderungen der künstlerischen Wahrnehmung und der Ausdrucksformen: Im Zürcher Exil wird die Nonsenskunst von Dada erfunden, das getreue Abbild des politischen Irrsinns, in Russland setzen sich primitivistische und abstrakte Richtungen an die Spitze, noch ehe das jahrhundertealte Zarenregime zusammenbricht, und allenthalben dringen die Unfasslichkeiten einer radikal mechanisierten und dehumanisierten Welt in Wahrnehmung und Wiedergabe der Wirklichkeit ein.

Die Hochkunst besitzt dabei durchaus kein Monopol auf solche Veränderungen. Eine riesige Ausstellungswand voller Gefäße nach Art herkömmlicher Vasen und Pokale, die Frontsoldaten aus metallenen Geschosshülsen herstellten und die in den Familien bis in jüngste Zeit bewahrt und verehrt wurden, mutet zunächst eher skurril an. Doch sie macht zugleich deutlich, wie die Allgegenwart des Krieges ins Leben integriert wurde. Die „Ready-mades“ eines Marcel Duchamp, im selben Saal gezeigt, verlieren mit einem Mal ihre Sonderstellung. Und ein Propellerblatt aus poliertem Holz nimmt es mühelos mit einer Skulptur von Constantin Brancusi auf.

Das sahen auch die damaligen Künstler, und sie sahen es wie die italienischen Futuristen bereits vor dem Krieg. Aber der Krieg beschleunigt die Umwälzungen, Wissenschaft und Technik übernehmen die Leitfunktion. Landschaften, eben noch als pastorale Idylle gesehen, zerfallen vor dem Auge zu Karten, die die Lage von Schützengräben angeben und Beobachtungsposten markieren. Das Flugzeug eröffnet dann vollends neue Perspektiven auf die von unzähligen Granattrichtern zerwühlte Erde, auf der „Tanks“ wie metallene Käfer kriechen. Und schließlich das auf deutscher Seite ruhmlose Kriegsende besiegeln.

Ausgerechnet die französischen Künstler wehren sich gegen die Neuartigkeit dieses Krieges, der doch nur wenige Stunden von Paris entfernt stattfindet. Der alte Monet harrt in seinem Garten aus und malt Seerosen. Picasso hat Harlekine im Sinn, und Matisse zieht sich an die unberührte Mittelmeerküste zurück. Nur Fernand Léger findet für seine abfällig als „Röhrenmalerei“ geschmähten Maschinenmotive die Entsprechung an der Front. Später schwärmt er allerdings von der großartigen Kameradschaft.

Es sind die expressionistisch bewegten Künstler, die das Grauen und den Irrsinn dieses Krieges in eindringliche Bilder bannen; Otto Dix in seinen Zeichnungen, George Grosz in blutroten Gemälden, etwa mit dem schlichten Titel „Explosion“. In Russland suchen Künstler den Weg zu einer Einfachheit und Direktheit, die die Bilderhefte der bemerkenswert zahlreichen Zeitschriften längst erreicht haben. Nicht so sehr die Kunst befruchtet das Vorstellungsvermögen und den kollektiven Vorrat an Bildern, sondern umgekehrt wachsen aus den vielfältigen Medien von Nachrichtenübermittlung und Propaganda, nicht zuletzt dank der ungeheuer aktuellen Fotografie, neue Bildformeln, die die Kunst sich nur mehr aneignen muss. Man darf die Ausstellung in Metz auch als eine Frucht des seit Jahren zu beobachtenden iconic turn von der Kunstgeschichte hin zur Bildwissenschaft ansehen, die alle visuellen Ausdrücke gleichrangig behandelt und auf kollektive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse zurückführt.

So sind denn, um diesen Ansatz zu untermauern, auf zwei Ausstellungsetagen Hunderte von Zeitschriften, Fotografien und Plakaten neben oder besser gegenüber Gemälden und Skulpturen in kaum geringerer Anzahl zusammengeführt worden – erhellend in jedem einzelnen Exemplar, aber im Ganzen doch etwas ermüdend. Alles, fast alles stammt aus diesem erstaunlichen Jahr 1917. Die Begeisterung des Kuratorenteams über seine Findigkeit obsiegt bisweilen über eine wünschenswerte Zuspitzung. Der Besucher verliert sich in Einzelheiten; wie den zu Päckchen geschnürten, kaum glaublichen 2330 Feldpostbriefen, die eine Marie Sautet erhalten hat. Aber was solche postalische Höchstleistung über das in Blick genommene Jahr 1917 aussagt, bleibt unerfindlich.

1917 war ein Schlüsseljahr, das dürfte mit dieser Ausstellung feststehen. Sie wird ergänzt durch ein Buch, das auf 592 Seiten unter anderem einen täglichen Ereigniskalender des Jahres 1917 sowie insgesamt 1070 Abbildungen ausbreitet – nur gibt es leider nicht die Ausstellung wieder. Ein Handbuch, kein Katalog. Womöglich stand der Ehrgeiz Pate, das für seine überreichen Ausstellungen bekannte Pariser Stammhaus des Centre Pompidou zu übertreffen. Immerhin ist drei Monate Zeit, die Metzer Forschungsleistung in Augenschein zu nehmen. Sie ist jede Anreise wert.

Centre Pompidou-Metz, bis 24. September. Handbuch 49,90 Euro. – Rahmenprogramm: www.centrepompidou-metz.fr

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