zum Hauptinhalt

Kultur: Das Leben als Lager

Berliner Staatsoper: Patrice Chéreau und Simon Rattle heben mit Janáceks „Aus einem Totenhaus“ einen Schatz des Musiktheaters

Was für ein faszinierendes, typisch spätzeitliches, viel, viel zu selten gespieltes Werk! Leos Janáceks letzte Oper „Aus einem Totenhaus“, 1930 in Brünn uraufgeführt, versammelt alles, was das Musiktheater des 20. Jahrhunderts braucht und so berüchtigt macht: ein roh montiertes, allen Gesetzen der klassischen Dramaturgie widersprechendes, inhaltlich hoch verqueres Libretto (des Komponisten selbst, nach Dostojewski); eine Musik, die jeder Folklore abschwört, indem sie nichts anderes als diese beschwört, mit grimmigen Fratzen, stampfenden Märschen und dröhnendem Sehnsuchtspochen; und ein monströses, rein männliches Sängerensemble (einzige winzige Ausnahme: eine Dirne), aus dem keine der 21 Rollen so recht herausragen kann und will. Kaum 100 Minuten dauert der Spuk – wenig Zeit, eigentlich, um der Frage nachzugehen, ob Dostojewskis Straflager und „Totenhaus“ nun mehr metaphorisch zu verstehen sei oder mehr naturalistisch.

Ist nicht das ganze Leben ein Lager? Fühlt sich nicht jeder Büromensch eingekerkert und von gesellschaftlichen Zwängen aller Arten malträtiert? Und: Werden wir nicht alle täglich neu schuldig an der Welt, indem wir Lager vom nordkoreanischen Yodok bis Guantanamo wenn nicht gutheißen, so doch zumindest dulden? Anders als Peter Konwitschny unlängst in Zürich (der die Handlung arg wohlfeil ins Bankermilieu verlegte) zeigt sich Regisseur Patrice Chéreau gegen solche Aktualitätsattacken immun. Vier Jahre hat seine viel gepriesene Janácek-Inszenierung inzwischen auf dem Buckel, was man merkt, weit gereist ist sie (von Wien über Amsterdam, Aix en Procence, die New Yorker Met und die Mailänder Scala), was man ebenfalls merkt, und dass sie erst jetzt den Weg nach Berlin findet, ist vielleicht der einzige Wermutstropfen an diesem heftig bejubelten Premierenabend im Schillertheater.

Überhaupt: Natürlich ist das Ganze mehr als eine Wiederaufnahme, vier Wochen lang hat Chéreau vor Ort penibel einstudiert und probiert – aber muss es wirklich sein, dass ausgerechnet die Saisoneröffnung der Staatsoper derart fremdbestückt wird? Seit 2007 bereits gibt es die Produktion auf DVD zu besichtigen, groß entwickelt hat sich die Arbeit seither nicht.

An der gebotenen Qualität freilich ändern derlei Mäkeleien wenig. Chéreaus Pfund ist seine stupende Musikalität, und er wuchert überbordend damit und absolut meisterlich. Jeder Handgriff, jede noch so kleine Geste, jeder Blick ist hier minutiös durchchoreografiert, oft notenhalsgenau, nichts auf dieser Bühne geschieht bloß ungefähr oder einfach so. Manches wirkt vielleicht etwas steif und festgezurrt, verstärkt auch durch Richard Peduzzis klaustrophobischen Raum, in dem riesige Betonquader ein träges, fast lichtloses Ballett miteinander tanzen. Da dürfte sich szenisch im Laufe der Vorstellungen noch einiges verflüssigen.

Ergreifend, wie der fälschlich internierte adelige Gorjantschikow (Willard White) im ersten Akt nach seiner Brille tastet und dabei gequält wird, oder wie eines der raren Requisiten des Abends gehandhabt wird, ein aus Leder und Pappe zusammengeschusterter Adler. „Der Adler ist Zar der Wälder“, singt der große Sträfling (Peter Straka), und wie die zittrigen Riesenschwingen des Vogels über den Köpfen der Gefangenen zusammenschlagen, ohne dass er sich je erheben könnte, das ist ein unerhört starkes Symbol für den Drang nach Freiheit und den Rest des kollektiven Überlebenswillens.

Protagonisten und eine kohärente Handlung kennt die Partitur nicht, wie gesagt, dafür drei große Rekapitulationen, die allesamt vom schuldlosen Schuldigwerden handeln. Stefan Margita als Luka schwärmt in seinem zerlumpten Rautenpullover vom Leben in Moskau (Kostüme Caroline de Vivaise), Skuratow (ingeniös verrückt: John Mark Ainsley) weint mit heruntergelassener Hose seiner Geliebten Lujza hinterher, derentwegen er einst einen Deutschen ermordete, und Schischkow (Pavlo Hunka) schließlich erzählt von seiner Frau Akulina, die er für untreu hielt, was sie mit durchschnittener Kehle bezahlte. Mit welcher Virtuosität Chéreau diese „Nummern“ im Geschehen verankert, wie er das Lagerleben zeigt, filmisch präzise, unerbittlich, ohne jede Anbiederei, das besitzt eine fast gespenstische Gültigkeit. Als zöge diese Arbeit ein Resümee, ja als begriffe sie sich mit Schauspielern und großem Chor (Einstudierung Eberhard Friedrich) als gesamttheatralisches Vermächtnis.

Die Hauptdarstellerin an diesem Abend aber ist die Musik, ist die Staatskapelle Berlin. Während Dirigenten wie Pierre Boulez oder Ingo Metzmacher beim späten Janácek gerne Kante gegen Kante setzen und beinhart auf Struktur, auf lückenlose Transparenz achten, liest Simon Rattle ihn mehr von der böhmischen Spätromantik und von Gustav Mahler her. Da pulst und vibriert es im Graben, dass es nur so eine Lust ist, sehr vital, sehr farbig und immer nah am Naturlaut, als erfreuten sich die Musiker an einem Satz zu groß geratener Bauklötze. Diese klangliche Plastizität und Diesseitigkeit mag zunächst verstören – wo alles auf Gewalt gepolt ist, auf Gulag und auf Sterben, was soll einem da das pralle Leben? Nun, Erinnerung kann es sein, Hoffnung, Utopie, ein letzter schöner Traum und Totentanz. Wer diesen Gedanken zulässt, erlebt einen großen Abend.

Wieder am 6., 9., 11., 14. und 17. Oktober.

Zur Startseite