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„Spielst du noch oder kämpfst du schon?“ Der Slogan steht unter einem der Dschihad-Rekrutierungsvideos im Stil des US-Computerspiels „Grand Theft Auto“.

© /LiveLeaks

Phänomen Pop-Dschihad: Männlich, muslimisch, jung gesucht

Warum zieht es junge Menschen nach Syrien? Wegen der coolen IS-Videos und der Perspektivlosigkeit im Westen? Die Gründe sind immer individuell. Das Phänomen Pop-Dschihad.

Ein US-Polizeiwagen in der Wüste, irgendwo im „Kalifat“. Verfolgungsjagd. Die Kamera fährt mit, ein vermummter Mann mit Kalaschnikow steigt aus. Er feuert auf einen Panzer – Explosion. Die Kamera wackelt, zoomt, wiederholt die Explosion in Slowmotion aus vier Perspektiven.

Eine Animation im Stil des erfolgreichen US-Videospiels „Grand Theft Auto“ – nur dass die Rollen getauscht sind. Der Protagonist – immer ein Underdog – ist ein Dschihadist, der Schauplatz keine US-Metropole, sondern die syrische-irakische Wüste. Untermalt wird das Video nicht von Pop, Rock oder Rap, sondern von einem Naschid – einem traditionellen islamischen Stück, a cappella von Männern gesungen.

Bei vielen Videos blinkt am Anfang das Logo des Medienunternehmens Al-Hayat auf. Es produziert für den Islamischen Staat, meist Englisch mit arabischen Untertiteln: leicht verdaulichen, gut verständlichen Pop-Dschihad für westliche Jugendliche.

Die Videos sind auf den hiesigen Konsum zugeschnitten, mit moderner Schnitt- und Soundtechnik, zeitgemäßem Equipment, „Bullet-Time“ wie bei „Matrix“ und Taubheitseffekt nach Explosionen wie in „Hurt Locker“. Allzu explizite Gewalt wird vermieden: Die grausamen Enthauptungsvideos zeigen meist nicht den Akt selbst, sondern das „Ergebnis“ der Gewalttat. Dabei greift die Ikonografie auf US-Vorbilder zurück. Aus Drohnen gefilmte Luftaufnahmen geben einen Überblick über die Szenerie, bevor ein rasanter Zoom direkt im Lauf eines Gewehrs mündet. Manche Sequenz könnte aus einer HBO-Serie stammen.

Spielst du noch oder kämpfst du schon?

Im Internet kursieren auch Bilder mit westlich-popkulturellem Bezug. Eine Animation zeigt eine verpixelte Pistole auf einem Tisch, schwarz umrahmt. Dazu der Satz: „YODO, you only die once – why not make it martyrdom“ (Man stirbt nur einmal – warum nicht als Märtyrer). Eine Anspielung auf die vom kanadischen Rapper Drake popularisierte Fastfood-Weisheit „YOLO“ („you only live once“), angesiedelt irgendwo zwischen „Carpe Diem“ und „Hakuna Matata“. 2012 war YOLO das deutsche Jugendwort des Jahres.

„Spielst du noch oder kämpfst du schon?“, steht unter einem der „Grand Theft Auto“-Videos. „Das, was du spielst, machen wir jeden Tag in Wirklichkeit.“ Das zielt auf die Sensibilität junger Menschen: Bist du noch ein Kind oder schon erwachsen? Bist du feige oder mutig? Etwa 600 Deutsche und 150 Österreicher sollen bisher in den Krieg nach Syrien gezogen sein. Keine Massenbewegung, aber eine erschreckende Zahl. Verführt der IS auf perfide Art die Jugend des Westens? Sind üble Werber am Werk, die mit ihren Netzen alles in den Dschihad ziehen, was sich leicht beeindrucken lässt? Der Hamburger AfD-Vorsitzende Jörn Kruse nennt es „die vier M: männlich, Migrant, Muslim, Misserfolg“.

Szenenwechsel. Roter Salon in der Volksbühne Berlin. Der Philosoph Guillaume Paoli diskutiert mit dem Medienwissenschaftler Bernd Zywietz vom Netzwerk Terrorismusforschung. Der Schritt zur Radikalisierung erfolge zwar maßgeblich über das Internet, sagt Zywietz, „es gibt aber keine schuldigen oder unschuldigen Bilder“. Zwar werden die Bilder von Westlern im IS ausdrücklich für Westler produziert, aber die müssen sich auch dafür interessieren, aus welchen Gründen auch immer. Das Internet fungiert dabei als Verstärker: „Junge Menschen teilen das Video mit Freunden, machen Remixe, drehen es nach, unterlegen es mit Musik, fertigen Fan-Art an“, erklärt Zywietz. All das publizieren sie im Internet, zeigen ihre künstlerischen Fertigkeiten. Das gibt es für „Herr der Ringe“, „Dragon Ball“, „Game of Thrones“, „One Piece“ – und für den Islamischen Staat.

Dschihadisten haben keinen Schulabschluss? Von wegen!

Die IS-Werber sind keine aggressiven Häscher, die Jugendlichen melden sich freiwillig. Aber wer sind diese jungen Leute, die gerne in einen Krieg ziehen, in dem bereits Hunderttausende getötet wurden und sich kein Sieger abzeichnet?

Oft heißt es dann, nicht nur von der AfD: Der Islam ist schuld und die Perspektivlosigkeit, es sind Ungebildete, Abgehängte, Versager, Kleinkriminelle. Aber „wenn man nach Faktoren sucht, die begünstigend für die Radikalisierung sein könnten, stößt man schnell an Grenzen. Weder beim Einkommen noch bei Bildung, Status oder Nationalität kann man belastbare Evidenz finden“, erklärt Zywietz im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Die oft zitierte Zahl des Verfassungsschutzes, 26 Prozent der aus Deutschland ausgereisten Dschihadisten hätten keinen Schulabschluss, relativiere sich schon dadurch, dass ein Viertel der IS-Kämpfer bis unmittelbar vor der Ausreise eine Schule besuchte – wie dieselbe Studie belegt.

Auch die Religiosität ist nicht entscheidend. Viele Nachwuchs-Dschihadisten sind säkulare Muslime, die in der Familie keinen Kontakt mit einer fundamentalistischen Auslegung des Koran hatten. Viele sind konvertierte Christen, Atheisten oder Juden. „PopDschihadisten sind nicht auf der Suche nach Religion“, sagt Claudia Danschke, die im Zentrum Demokratische Kultur Familien berät, deren Kinder sich radikalisiert haben. Dass die Islamistenszene der rechtsextremen Szene ähnelt, stellte nicht nur Danschke fest, sondern auch Zywietz: „Mit anderen persönlichen Prägungen könnten sie auch bei den Rechtsradikalen gelandet sein“.

Der einzige klar nachweisbare Faktor: Die meisten sind männlich und jung.

Radikalisierung ist immer individuell

Einfache Erklärungen gibt es trotzdem nicht, es kommt immer auf den Kontext und die konkrete Person an: Jede Radikalisierung hat individuelle Ursachen. Der 18-jährige angehende Kindergärtner und Akademikersohn Alfons Rosenbruch hatte nicht viel gemein mit dem mehrfach vorbestraften Ex-Rapper Dennis Cuspert, der jetzt in Videos unter dem Namen Abu Talha al-Almani in Syrien auf Leichen herumtrampelt. Auch nicht mit dem Sossenheimer Kosovo-Albaner Arid Uka, der Szenen aus dem US-Spielfilm „Redacted“ über das Massaker von Mahmudiyya sah, um dann am Frankfurter Flughafen zwei amerikanische GIs zu erschießen.

Der Radikalisierungswillige ist ein Akteur, kein passives Objekt. „Wir hätten gerne, dass es Eiferer sind, religiöse Fanatiker, böse Menschen“, so Zywietz. Das macht es einfacher, die schwer erklärliche Gewalt auf Distanz zu halten. Auch Psychopathen ziehen in den Syrienkrieg, aber die meisten wissen sehr genau, was sie tun und wie Medien auf sie reagieren. Es gibt sogar Selbstironie, etwa in Videos, in denen sich Dschihadisten über Anti-Dschihad-Videos lustig machen.

Sie alle verbindet weniger eine Ideologie oder Agenda als das Gefühl, dass es in Deutschland keinen Platz für sie gibt. Ihre Sehnsucht nach Bestätigung, nach Aufmerksamkeit findet keinen Widerhall in der Gesellschaft. Sie fragen sich, so Zywietz, „ordne ich mich ein oder suche ich mir meine eigene Ordnung?“ Der IS schöpfe diese Mentalitäten effizient ab, indem er all das bietet: Gemeinschaftsgefühl, Verankerung, Aufmerksamkeit. „Und ein Gefühl der Überlegenheit, das Bewusstsein, Teil der Avantgarde, der Speerspitze zu sein.“ Claudia Danschke glaubt, dass die jungen Leute genauso gut bei gewalttätigen Tierschützern, Linksextremisten oder Neonazis landen könnten. „Nur: Der Pop-Dschihadismus ist hipper, aktueller und adäquater für die Suche nach Bestätigung.“

Der IS ist wie die coolste Gang der Stadt

Jugendliche wollen opponieren, schockieren, Verbotenes tun, das war schon immer so. Und der IS schockt. Er ist gefährlich, mysteriös, die coolste Gang der Stadt, vor der nicht nur die Eltern warnen, sondern auch die Kirche, der Fußballverein, der Bürgermeister, der Außenminister, der US-Präsident. Kaum etwas ist schlimmer als der Dschihad.

„Es gibt Fälle, da gehen junge Menschen während der Sommerferien hin, in den Urlaub“, sagt Bernd Zywietz. Ein Kurztrip, um Eindruck zu schinden und sich mit dem Image des coolen Dschihadisten zu schmücken. Dabei ist es gar nicht so einfach, dem IS beizutreten: Man braucht Netzwerke, Sprachkenntnisse und Kontaktpersonen. Eben deshalb erleben die meisten dort gar nichts, wie Tarafa Baghajati, Gefängnisseelsorger und Obmann der Initiative Muslimischer Österreicherinnen, kürzlich im ORF berichtete. Also kehren viele Möchtegern-Krieger an der Grenze enttäuscht wieder um – weil sie nicht gebraucht werden oder ihnen nicht klar war, was Krieg bedeutet.

Auch wenn der Dschihad in seiner Brutalität, seinem Tempo und der medialen Wirkkraft schwer mit historischen Phänomen vergleichbar ist, kommen einem Parallelen in den Sinn. Im Spanischen Bürgerkrieg 1936 kämpften die Internationalen Brigaden aus Franzosen, Deutschen, Italienern mit „nichts als Hass im Herzen“ – so ihre Hymne – gegen Francos Faschisten. Sie kämpften gegen die Diktatur, für die gute Sache, sagen wir heute. Aber die Spanische Fremdenlegion verübte ebenfalls mit der Unterstützung von Franzosen, Deutschen, Italienern Massaker und skandierten dabei „Viva la Muerte“. 1978 nahmen internationale Truppen aus dem Umfeld der „Neuen Linken“ Europas an der sandinistischen Revolution in Nicaragua teil, während die USA Hilfe für die Konterrevolutionäre schickten. Jedes Mal geschah das mit dem Verweis, für ein edles Ziel zu kämpfen, jedes Mal reisten zahlreiche Ausländer desillusioniert wieder ab.

Heute ziehen wieder junge Menschen in den Krieg. Auch sie nehmen den Tod in Kauf, im Glauben, das Richtige zu tun und an der Rettung der Welt mitzuwirken.

Linksterroristen, Amokläufer, Rechtsradikale, Islamisten: Die jeweils neueste Bedrohung wird gern als die schlimmste angesehen, mit Vehemenz analysiert und bekämpft. Bei allen Reintegrations- und Deradikalisierungsmaßnahmen wird es trotzdem immer jene geben, die nicht erreichbar sind. Jene, die nicht aus dem Krieg zurückkehren. Jene, die sich der Enthemmung hingeben, der pervertierten Erotik des Schlachtens. Jenen Rest des Phänomens Pop-Dschihad, der sich nicht ins Narrativ der Gesellschaft einfügen lässt. Eine Gesellschaft, die nie so cool sein kann und darf wie ihr Antagonist.

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