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Kultur: Das Rätsel Realität

Atom Egoyan über das armenische Trauma, biografische Täuschungen – und eine frühe Liebe

„Wahre Lügen“ heißt im Original „Where the Truth Lies“. Ein schönes Spiel mit der Doppelbedeutung von „to lie“: liegen und lügen.

„Where the Truth Lies“ verweist auf den Ort, wo die Wahrheit ruht. Aber es legt auch einen Platz nahe, wo etwas vorgeblich Wahres gar nicht wahr ist.

Immer wieder in Ihren Filmen formulieren Sie Zweifel, ob man Ereignisse objektiv und wahrheitsgetreu nacherzählen kann.

Um Wahrheit bestimmen zu können, muss man die Grenzen der dafür benutzten Wahrnehmungsinstrumente begreifen – die Begrenztheiten unserer Sinne und unsere psychologischen Grenzen. Es betrifft aber auch Dinge, die von institutionellen und familiären Leugnungssysteme geprägt sind. Als Filmemacher bin ich von solchen Fragen besessen.

Immer wieder auch behandeln Sie Vergangenheitstraumata – ob individuell wie in „Exotica“ oder historisch wie in „Ararat“, wo es um den Genozid der Türken an den Armeniern geht.

Ich habe mittlerweile erkannt, dass beinahe alles damit zu tun hat, dass ich Armenier bin. Es ist einfach seltsam, mit einer verleugneten Geschichte leben zu müssen. Kürzlich sprach ich mit einem türkischen Künstler meiner Generation, Kutlug Ataman, den ich sehr verehre. Ich musste mir dabei immer wieder vor Augen führen, dass es für ihn keinen Grund gibt, sich für die türkische Geschichte zu entschuldigen, denn ihn wurde diese Geschichte nie gelehrt. Die andere, persönliche Seite: Einige Jugenderfahrungen haben mich prägend dazu gebracht, die ‚Realität‘ in Frage zu stellen. Dazu gehörte eine wichtige Beziehung mit einer jungen Frau, von der ich damals besessen war. Irgendwann fand ich heraus, dass sie von ihrem Vater missbraucht wurde. Den Vater hatte ich sehr respektiert; er war ein wichtiger Künstler in unserer Stadt. Erst später begriff ich, dass die ganze Stadt gewusst haben muss, was da geschah.

Also handeln „Wahre Lügen“ und „Ararat“ in gewisser Weise gar nicht von besonders unterschiedlichen Themen.

Es ist lustig, dass Sie das sagen. Ich habe mich bisher dagegen gewehrt. Schließlich habe ich den Film ja gerade deshalb gemacht, um der Dichte und Schwere der „Ararat“-Erfahrung zu entkommen. Ich musste etwas drehen, das – ich benutze jetzt mal dieses Wort – Spaß macht: eine Stilübung. So einfach läuft das mit dir dann aber doch nicht. Hier sitze ich nun, und wir unterhalten uns in der Tat über die gleichen Themen wie bei „Ararat“. Ich habe diese Themen sogar in Rupert Holmes’ Geschichte, die „Wahre Lügen“ als Vorlage dient, selber hineingepackt. Es ist pervers, eine Verbindung zwischen dem Genozid an den Armeniern und der Welt zweier Starentertainer herzustellen – insofern kann man diese Verbindung nur bis zu einem gewissen Grad aufrechterhalten.

Ähnlich wie in „Ararat“ legen Sie in „Wahre Lügen“ nahe, dass Geschichte zu schreiben, immer zum Konflikt zwischen unterschiedlichen Versionen führt.

Geschichte wird, wie das Klischee besagt, von den Siegern geschrieben. Wenn es jedoch genug Menschen gibt, die eine andere Version kennen, und diesen Leuten die Gabe und die Möglichkeit verliehen wird, das auszudrücken, muss auch das irgendwann anerkannt werden. Die Türkei ist heute mit einer seltsamen Situation konfrontiert: Ihr Wunsch, die armenische Bevölkerung der Türkei auszulöschen, hat dazu geführt, dass diese Leute in verschiedene Länder verstreut wurden; einige von ihnen wurden Künstler und Autoren, und nun wollen sie in ihrem Werk herausfinden, was überhaupt zu diesem Exil geführt hat. Diese Arbeiten werden von einer Gruppe von Akademikern und freien Geistern in der Türkei mit offenen Armen empfangen, während gleichzeitig radikale Nationalisten sie vehement abzuwehren versuchen. Das gilt auch für „Ararat“.

Gibt es in dieser Auseinandersetzung der Türken mit ihrer Geschichte nicht winzige Schritte nach vorn?

Es gibt eine progressive Bewegung. Andererseits war da das absolut lächerliche Verfahren gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk. Darüber hinaus haben wir den Fall eines sehr bekannten armenischen Journalisten, Hrant Dink, der in Istanbul das Wochenmagazin „Agos“ herausgibt und ebenfalls vor Gericht stand. Das alles zeugt von einer sehr, sehr ungesunden Situation. Andererseits lässt dieser enorme Konflikt möglicherweise die Substanz des türkischen Bewusstseins klarer erscheinen – ein Konflikt zwischen den Kräften, die offen und bereit sind, einen Dialog herzustellen, und denen, die für die Fortdauer des Mythos stehen.

Wie bewerten Sie den Druck, den die Europäische Union auf die Türkei ausübt? Ich denke an die Menschenrechtsverletzungen, aber auch an die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte?

Ich schätze das als fortschrittlich ein. Aber Dinge, die nur aufgrund von externem Druck getan werden und nicht aufgrund des eigenen Wunsches, mit etwas ins Reine zu kommen, können auch einen gegenteiligen Effekt haben. Wenn die Veränderungen nur ein Preis sind, den jemand zahlt, und kein Prozess der natürlichen Aussöhnung, dann wird dieser Weg durch Gefahren erschwert.

Das Gespräch führte Julian Hanich.

SEIN LEBEN

Geboren 1960 in Kairo als Sohn armenischer Eltern , wuchs er in British-Columbia, Kanada, auf, zog mit 18 Jahren nach Toronto , um dort Internationale Beziehungen und Klassische Gitarre zu studieren.

SEINE FILME

1984 wurde sein Debüt Next to Kin bei den Genie-Awards in Kanada vorgeschlagen. „Family Viewing“ gewann 1987 den Kritiker-Preis in Locarno, „The Adjuster“ 1991 den Spezialpreis der Jury in Moskau. Der internationale Erfolg kam mit Exotica (1994) und The Sweet Hereafter (1997). Es folgten

„Felicia’s Journey“ (1999) und Ararat (2002). Vor drei Jahren war er Vorsitzender der Berlinale-Jury.

OPER UND KUNST

Egoyan führt auch Opern-Regie, so bei

„Salome“ (1996),

Elsewhereless (1998) und „Dr. Ox’s Experiment“ (2004). Er tritt auch mit Kunst-Installationen hervor.

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