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Niklas Luhmann. Foto: Teuto

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Kultur: Das Richtige ist das Erträgliche

Soziologische Gelassenheit für angespannte Zeiten: Niklas Luhmann hat noch immer Konjunktur

Es gibt eine Anekdote über Niklas Luhmann, die erklärt, warum seine Systemtheorie bis heute mit so großer Begeisterung angenommen wird. Es ist eigentlich nur ein ironisches Statement, das offenbart, wie strapazierfähig das Denken des Bielefelder Soziologen war. Der Satz fiel auf einer Tagung, die der Sozialwissenschaftler Raffaele di Giorgi besuchte.

Er hörte, wie ein Teilnehmer Luhmann nach dessen Vortrag erwiderte, dass seine Theorie zwar großartig, leider aber völlig falsch sei. „Luhmann lachte“, so di Giorgi, „und lachend wiederholte er: ‚Kann wohl sein; aber wenn sie falsch ist, dann auf die einzig richtige Weise.’“ Diese Aussage sollte sich jeder Luhmann-Anfänger hinter die Ohren schreiben – zumal 2010 zahlreiche Publikationen von und über Luhmann veröffentlicht wurden und 2011 weitere folgen.

Einen Grund liefert auch Luhmanns Studie „Politische Soziologie“, die jüngst aus dem Nachlass des 1998 verstorbenen Sozialwissenschaftlers erschien. Es ist eine Schrift – vor fünfzig Jahren verfasst und nie vollständig fertig gestellt –, die auf einem Kommunikationsmodell beruht, das die eng verzahnten Bereiche von Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit seziert. Im Grunde will Luhmann nichts anderes zeigen als ein effizientes Politik-System. Seine Beschreibungen betreffen alle historischen Modelle, alle Gesellschaftsformen, wie man anhand seiner (wie immer unterkühlt und trotzdem ansprechend formulierten) Analyse über die Entstehungsgeschichte von politischen Systemen nachvollziehen kann.

Erst wird der Leser mit primitiven Stämmen konfrontiert, dann mit aristokratischen Gesellschaftsmodellen und schließlich, als generischer Endpunkt, mit der streng regulierten, grau daherkommenden bundesrepublikanischen Bürokratie. Genau dieses zeitaufwendige Politik-System, ein Ergebnis der deutschen Nachkriegsgeschichte, ist für Luhmann entscheidend.

Es impliziert ein repräsentatives Parlament, das gebunden und abhängig ist von Parteien und zahlreichen Ministerien und einem gigantischen, komplex organisierten Verwaltungsapparat. Dabei lautet die Kernaussage des Juristen Luhmann: Wenn unser Parlament ein Gesetz beschließt, dann ist damit noch lange nichts erreicht. Gesetze und Beschlüsse werden erst dann relevant, wenn sie die bürokratischen Mühlen durchlaufen haben und den Bürger erfolgreich dazu bewegen, nach den Anweisungen zu handeln.

Luhmann macht sich also viele berechtigte Gedanken, um zu erläutern, wie der Bewegungsablauf – vom Parlament zum Individuum und wieder zurück – sich organisieren lässt. Mehr auch nicht. Doch das ist, wenn man genau hinschaut, schon eine beeindruckende Leistung, die vor allem erbitterte Moralisten, die sich von Gesellschaftstheorien mehr Anstand und Ethos erhoffen, beruhigen sollte. Denn mit Luhmanns Beobachtungen lässt sich zeigen, wie in einer Epoche größter Komplexität friedfertiges Handeln gelingen kann. Das ist der positive Nebeneffekt, den auch moralisierende Geistes- und Sozialwissenschaftler anerkennen sollten, wenn sie die Frage nach der „besten aller möglichen Welten“ an die Denkmaschine Luhmann richten.

Luhmann geht von der Prämisse aus, dass unsere Gesellschaft sich in alle Richtungen verändern kann. Ins Gute wie ins Schlechte. Sie kann demokratisch organisiert sein, aber auch in Diktatur verfallen. Sie kann stabil regiert werden, aber auch dem Mob unterliegen. „Nichts versteht sich von selbst.“ Der Mensch kann „hilfsbereit sein, tauschen und zuteilen“, aber auch „wegnehmen und töten“. Dementsprechend gibt es keine richtigen Lösungen, sondern nur erträgliche Entscheidungen, die es ermöglichen, die Interessen in einer pluralistischen Gesellschaft unter einen Hut zu bekommen. „Ungediente können an die Staatsspitze gelangen, Professoren müssen beim Friseur warten“, heißt Luhmanns gewitzt-lakonischer Ratschlag.

Auf dieser Grundlage nimmt Christian Geyer mit einem ganzen Buch Bezug auf Luhmanns Essay „Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten“. Ähnlich wie große Teile der „Politischen Soziologie“ ist auch dieser Text eine Studie über die Gelassenheit, des Warten-Könnens, der postmodernen und ironischen Entspannung.

Mit anderen Worten: In Luhmanns politischer Planung wird ein Staatsbürger vorausgesetzt, dem zugemutet wird, „bei Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen nicht Schaufenster einzuschlagen, sondern Verwaltungsgerichtsprozesse zu führen, nicht als Mob, sondern als Wähler aufzutreten – und das heißt immer: zu warten.“ Das klingt wenig spektakulär, ist aber erfolgreich.

Die Systemtheorie hat viele erkenntnistheoretische Vorteile, was nicht heißen soll, dass gegen sie keine Bedenken formulierbar wären. Wen einerseits beim Luhmann-Studium das schlechte Gewissen überfällt, weil der Mensch in der Systemtheorie zu kurz kommt, und wer andererseits genau diesem Gefühl entgehen möchte, der sollte zu den Interviewsammlungen „Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann?“ oder „Was tun, Herr Luhmann?“ greifen.

Im letztgenannten Bändchen, das erweitert durch den Titel „Wie halten Sie’s mit Außerirdischen, Herr Luhmann?“ erweitert wird, sind bekömmliche Journalistengespräche mit Luhmann zusammengefasst. Außerdem findet sich in ihnen ein anregendes Streitgespräch zwischen Dirk Baecker, einem Luhmann-Apologeten, und seinem Antipoden, dem Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Der hält der Systemtheorie vor, dass sie mit ihrem Gesamtheitsanspruch der Welt nicht mehr gerecht werden könne.

Denn die Systeme seien heutzutage überfrachtet und unklar konturiert: Religionen würden sich in die Sphäre des Politischen kämpfen, NGOs nähmen immer mehr Einfluss auf gesetzgebende Instanzen, und Terroristen untergrüben die konventionellen Regeln des Krieges. Außerdem könnten die aggressiven Bedrohungen der Welt nur mit einer moralischen Botschaft zurückgedrängt werden, nämlich mit der Botschaft, dass wir unsere Demokratie mit Hilfe mündiger Bürger verteidigen wollen. Das mag richtig sein. Doch muss man gestehen, und das tun ja viele Intellektuelle, wie man an der Zahl der Publikationen erkennen kann, dass Luhmanns Theorie trotz aller moralischen Neutralität die große Chance bietet, generelle Probleme überhaupt erst zu identifizieren.

Dazu muss man aber, wie Peter Sloterdijk (neben Dirk Baecker, Norbert Bolz, Peter Fuchs und Hans Ulrich Gumbrecht) in dem jüngst erschienen Bändchen „Luhmann Lektüren“ betont, den Gegner zunächst „entculpabilisieren“ und den Menschen nicht in seiner Menschlichkeit, sondern in seiner Funktion und sinngebenden Trägerschaft verstehen. Als Politiker, als Immigrant oder eben als Terrorist. Das ist manchmal erkenntnisreicher, als man glaubt. Vielleicht kann man so auch den oft falsch verstandenen Luhmann-Satz entschärfen, der da heißt: „Menschenbilder, sowas Grausliches.“ Er will nur sagen: Leute, zur Sache bitte!

Niklas Luhmann: Politische Soziologie. Herausgegeben von André Kieserling. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 499 S., 29,80 €.

Wolfgang Burckhardt (Hrsg.): Luhmann Lektüren. Dirk Baecker, Norbert Bolz, Peter Fuchs, Hans Ulrich Gumbrecht, Peter Sloterdijk. 160 Seiten, 10 €.

Wolfgang Hagen (Hrsg.): Was tun, Herr Luhmann? Vorletzte Gespräche mit Niklas Luhmann. 160 Seiten, 14,90 €.

Klaus Dammann: Wie halten Sie's mit Außerirdischen, Herr Luhmann? Nicht unmerkwürdige Gespräche mit Niklas Luhmann. 160 Seiten, 14,90 €.

Christian Geyer: Niklas Luhmann. Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten. Erscheint voraussichtlich im April 2011. 144 Seiten, 10 €.

Alle Titel im Kadmos Verlag, Berlin.

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