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Kultur: Der liebende Sohn

Reimar Lenz: ein Freigeist. Sein Vater: ein Nazi. Wiederbegegnung mit einem Protagonisten der Doku „Berlin Ecke Bundesplatz“.

Einen eigenen Fernseher haben Reimar Lenz und Hans Ingebrand zum guten Leben nie gebraucht. Aber „die Glotze“ war 26 Jahre lang ein schönes Medium, sich der Welt mitzuteilen. Als „Die Aussteiger“ im RBB liefen, luden sie mit launigen, auf Schreibmaschine getippten Zeilen dazu ein, die nächtliche Sendung ihres Doppelporträts aus der Reihe „Berlin Ecke Bundesplatz“ doch bitte nicht zu verpassen. Noch einmal sah man den schlaksigen Luftmenschen Reimar Lenz und Hans Ingebrand, seinen gut geerdeten Lebenspartner, wie sie ganz bei sich die Rollen ihres Lebens spielen. Mit Premieren auf der Berlinale im Februar ist die Langzeitdokumentation von Hans Georg Ullrich und Detlef Gumm zum Ende gekommen, als DVD wird sie nun ins ewige Leben eingehen.

Ein Vierteljahrhundert erzählten die Filmemacher das Leben weiter, wie es spielte. Reimar Lenz und Hans Ingebrand hatten in der Protagonistenriege von „Berlin Ecke Bundesplatz“ den Part der bunten Hunde, ein Glücksfall für die Reihe. Die beiden Freigeister und Lebenskünstler – die Unbürgerlichen im braven Wilmersdorfer Kiez – öffneten den Dokumentaristen ihre Türen, nahmen sie in ihren Alltag mit, führten Gespräche, wurden Freunde. So entstand ein Puzzlebild ihres seit 41 Jahren miteinander verschränkten Lebens.

Reimar Lenz, 1931 in Berlin geboren, blickt auf ein bewegtes Leben als Religionsphilosoph, freischaffender Publizist und Dozent in der Erwachsenenbildung zurück. Hans Ingebrand, 1937 im Westfälischen zur Welt gekommen, bricht Malerlehre und Polizistenlaufbahn ab, um sich in Berlin als Masseur und Hauswart seine Leidenschaft für die Malerei zu finanzieren. „Die sogenannte Liebe: ein Mysterium“, charakterisiert Lenz ihre Beziehung bei der Heirat 2001. Sie schließt ein inniges, beständiges, bisweilen erschöpfendes Reflektieren der Welt im Großen und Kleinen mit ein.

Man sieht die beiden im Film als Friedensaktivisten und Mahnwächter vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, auch als listige Propagandisten sparsamer, nachhaltiger Lebensführung. Wie aus der Zeit gefallen, verweigern sie sich den Versuchungen der Medien- und Konsumwelt. Reimar Lenz schart viele Jahre einen Kreis um sich, der über Politik, Kunst und Philosophie debattiert und Gäste aus Kriegs- und Krisengebieten einlädt, um ungefiltert von dort zu erfahren. So berichtet etwa die Widerstandskämpferin Gräfin Maltzan von ihren riskanten Aktivitäten zur Nazi-Zeit.

2012 begegne ich den beiden persönlich. „Berlin Ecke Bundesplatz“ im Kopf, besuche ich sie, um für ein Buch zu recherchieren, das die angenehm kauzigen Szenen ihres Lebens (und das weiterer Protagonisten) festhalten und, soweit möglich, um neue Akzente ergänzen soll („Berlin Ecke Bundesplatz“, Bebra Verlag, 240. S., 16,95 €) . Gastfreundlich und herzlich ist die Atmosphäre in ihren kleinen, Wand an Wand gelegenen Wohnungen. Die Dinge, die man im Film beiläufig sieht, bekommen nun eine Geschichte: Hier die Kanne aus Meißener Porzellan von Reimar Lenz’ Mutter Kara, dort Hans Ingebrands Bilder von spiralig sich windenden Lebensbäumen, Symbole seiner fortwährenden inneren Auseinandersetzung.

Die Zeit, die wir miteinander verbringen, ist kurz, doch intensiv genug, um neugierige Fragen zu stellen. Nach allem, was Reimar Lenz und Hans Ingebrand über ihre Kindheit im Nationalsozialismus, ihre Jugend im restaurativen Klima der frühen Bundesrepublik, über Ausgrenzung, Zurücksetzung und Angst vor Entdeckung andeuten, zeichnen ihre selbstbewussten Lebensentwürfe, ihr politisches Engagement, ihr Streben nach philosophischer und künstlerischer Durchdringung einen Aufbruch nach, der ohne die Zeitenwende der 60er Jahre und ihre antiautoritären Schubkräfte nicht denkbar ist.

Der Lebenslauf von Reimar Lenz, meint man instinktiv, muss geprägt sein von dem für seine Generation typischen Affekt gegen die Nazi-Eltern. In „Berlin Ecke Bundesplatz“ sieht man ihn vor dem Haus seiner Eltern in der Zehlendorfer Beerenstraße im Gespräch mit Irène Alenfeld, der jüngeren Schwester seines Kindheitsschwarms Justus Alenfeld. Dass Lenz im Haus der Alenfelds in der benachbarten Forststraße verkehrte, war ihm von den Eltern nicht verwehrt worden, obwohl die Alenfelds in „privilegierter Mischehe“ ständig bedroht waren, wie es Irène Alenfeld in ihrem Buch „Warum seid Ihr nicht ausgewandert?“ eindrücklich beschreibt.

Reimar Lenz’ Vater war der Mediziner, Eugeniker und Rassehygieniker Fritz Lenz, der von 1934 bis 1944 die Abteilung Eugenik am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie leitete. Fritz Lenz hing schon vor Gründung der NSDAP der Wahnidee von der überlegenen nordischen Rasse an und hatte mit anderen den Ehrgeiz, seine pseudowissenschaftliche Erblichkeitslehre in Politik umzusetzen. In der historischen Forschung über die Rechtfertigung nationalsozialistischer Maßnahmen zur Zwangssterilisierung und Euthanasie u. a. von Ernst Klee, Karl Heinz Roth und Götz Aly haben Fritz Lenz’ Schriften bedrückendes Gewicht. Auch die Untersuchungen zur Verstrickung der Kaiser-Wilhelm-Institute in das NS-System benennen seine zweifelhafte Rolle. Carola Sachse und Benoit Massin schildern seine Funktion als Sachverständiger und Gutachter in einem Beirat des Reichsinnenministeriums, das bürokratische Richtlinien zur Brandmarkung von „Lebensunwerten“ ausarbeitete.

Angesichts dieses immer klareren Bilds von der freiwilligen Indienstnahme der Wissenschaftselite durch die Nazis frage ich Reimar Lenz, ob es zum Disput über die Rolle des Vaters gekommen sei. Doch meine Vermutung, sein Eintreten für alternative libertäre Lebensformen sei die unmittelbare Folge seiner Abgrenzung vom Nazi-Elternhaus, bestätigt sich so einfach nicht. Es ist vielmehr, als hätten wir vermintes Gelände betreten.

Schwer lastet die Erinnerung an die Kriegskindheit, an den massiven Druck, sich als Pimpf dem NS-Kontrollwahn zu fügen, wegen seiner guten Schulleistungen gar in eine Napola-Schulanstalt einrücken zu müssen. Im Gespräch und dann in mehreren Briefen resümiert der Sohn Geschichten, die seine Kindheitserfahrungen von der Verstrickung insbesondere des Vaters freihalten wollen. Die Grautöne im Schwarz-Weiß sind Reimar Lenz’ Botschaft an mich. Es geht ihm um die Widersprüchlichkeit seiner Eltern im Privaten, die für den Schutz des Sohnes eintraten. Sie sorgen für Atteste, um ihm die Napola zu ersparen. Der Vater versucht, ihn von den Aufmärschen der Pimpfe freistellen zu lassen. Die Mutter lädt Justus Alenfeld ein, besuchte mit dessen Mutter die Paulus-Gemeinde in Zehlendorf, in der der antinazistische Pfarrer Dilschneider predigt.

Die inneren Bilder von damals sollen eine Kohärenz zur großen Geschichte hergeben. Im Standardwerk des Vaters, „Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“, unterstreicht Lenz die Stellen, an denen jener noch in der Ausgabe von 1936 den Beitrag der Juden zur Kulturleistung des Abendlands lobt. Dass sie nur ein paar Seiten weiter als „Parasiten“ dargestellt werden, darauf macht Hans Ingebrand den Freund aufmerksam.

Der fatale Hallraum hinter den Kindheitserinnerungen setzt den alten Herrn in Erregung. Meine Versuche, seine persönlichen Geschichten so schlüssig wie möglich zu rekonstruieren, nimmt er höflich auseinander und bittet um Richtigstellung. Die Kluft zwischen der Geschichte, die die Opfer betraf, und den Geschichten des liebenden Sohnes lässt sich nicht schließen.

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