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Der Pianist Jan Augsberg, 32, hat vor einem Jahr seinen Job als Architekt geschmissen, um eine Musikerkarriere als Pianist zu starten.

© Kai-Uwe Heinrich

Der Pianist Jan Augsberg: Das Prinzip Güte

100 Konzerte in 100 Städten: Pianist Jan Augsberg hat das Jahr auf einer selbst organisierten Welttournee verbracht. Jetzt ist er zurück in Berlin.

Da macht einer Musik, seit er fünf Jahre alt ist und wünscht sich von den Eltern schon als Knirps ganz ostentativ ein Klavier. Mit sechs, als sie ein Jahr lang beobachtet haben, wie ernsthaft er auf einem Xylophon übt, bekommt er es. Die Anschaffung ist keine Kleinigkeit. Auf 5000 Mark beläuft sich der Kredit. Sie wachsen zusammen, der Junge und das Klavier. Und auch als er Abitur macht und Architektur studiert, gehört jede freie Minute der Musik.

Tagsüber sitzt er im Architekturbüro, abends schreibt er zu Hause Lieder. Keine Mitsinghits, sondern melancholischen Pianopop, mal instrumental, mal Englisch gesungen. Er nimmt zwei Alben auf, die niemand bemerkt. Er spielt in einer Band, die keiner kennt. Er träumt von einer Karriere als Solomusiker. Es ist die übliche Geschichte. Irgendwann passt der Mensch die Ambitionen den Realitäten an.

Mit 32 Jahren schmeitß er den Job, der Musik zuliebe

Jan Augsberg nicht. Er entscheidet sich vor einem Jahr für einen anderen Weg. Er wählt das Abenteuer. Schmeißt nach drei Jahren den Job an seinem Studienort Braunschweig, löst die Wohnung auf, verkauft den Hausrat und geht auf Welttournee. Als völlig Unbekannter. 365 Tage, 100 Konzerte in 100 verschiedenen Städten – das ist die selbst gestellte Herausforderung. Organisiert ohne Konzertagentur, ohne Plattenlabel, ohne Budget, wenn man von ein paar Ersparnissen absieht. Die Aktion hat was von einer Wette. Der Einsatz ist ein Jahr Leben. Kindergarten, Schule, Studium, Job – das ist der gesetzte Rahmen. Nun, mit 32, spürt Jan Augsberg, dass es endlich Zeit ist für sein eigenes Spiel. Sicher, es ist auch ein Trick, um Aufmerksamkeit zu erlangen – mit einem sportiven, nicht nur künstlerischen Touch. Das hat die von Jan Augsberg per Blog und Facebook dokumentierte Reise womöglich noch aufregender gemacht.

Da kommt er schon über den Hof der Ufa-Fabrik gelaufen, wo er in einigen Tagen das letzte Konzert gibt. Die Zahl 100, sie wird mit Bedacht in der Heimat vollendet. Zu Beginn seiner am 2. Januar mit einem „Abschiedskonzert“ in einer Fahrradwerkstatt in Braunschweig gestarteten Reise habe er nichts als Fernweh gehabt, erzählt er, doch zum Schluss dann vor allem Heimweh. „Toll, dass ich zu meinem letzten Konzert einfach über die Straße gehen kann“, sagt er.

Tempelhof war und ist sein Heimatbezirk

Die Ufa-Fabrik ist seit Kindertagen sein Revier. Die Schweine auf dem Kinderbauernhof besuchen, den Kakao im Café trinken, das war ein festes Ritual zwischen dem Sohn und seinem inzwischen verstorbenen Papa. „Meine Tempelhofer Kindheit hat sich im Umkreis von 500 Metern abgespielt.“ Die Mutter ist eine aus Korea eingewanderte Krankenschwester, der Vater ein in Braunschweig geborener Maschinenbauingenieur. Der Sohn ist einstweilen in deren alter Wohnung untergekommen. „Meine Mutter ist viel in Korea, sie versteht die ganze Aktion bis heute nicht, aber sie kommt zum Konzert.“

Sie wird feststellen, dass ihr Sohn nicht derselbe ist, der er vor den 100 Konzerten war. Im Frühjahr haben ihn ein, zwei Zeitungsartikel noch als introvertiert beschrieben, davon ist im Dezember nichts mehr zu spüren. Von Hongkong bis Seoul, von Warschau bis Mailand, von Köln bis Amsterdam – auf Menschen zuzugehen, selbst wenn er hinterm Piano sitzt, das hat Jan Augsberg inzwischen gelernt. Um Auftrittsorte vom Wohnzimmer über Galerien und Clubs bis hin zu Bahnhöfen, Kirchen und Krankenhäusern zu akquirieren, hat er jeden irgendwie greifbaren Menschen nach Kontakten gefragt und – auch mithilfe von Übersetzungsprogrammen – unzählige Mails blind in alle Welt geschrieben. „Aus 50 Tipps ergab sich dann ein Konzert.“ Gestern hat er in Sachsen gespielt, auf einem frisch sanierten Kulturbauernhof bei Pirna. „Mein Minusrekord, es waren nur drei Leute da.“ Das hat ihn weniger peinlich berührt als die wohlmeinende Veranstalterin.

Statt stur seine Balladen und Improvisationen abzuspulen, hat er in dem intimen Rahmen einen Erzähl- und Musikabend draus gemacht – und von seiner Reise berichtet. Und was sind Jan Augsberg da nicht alles für Sachen passiert!

In Tokio fliegt er raus, in Vorarlberg lauschen ihm Professoren

Etwa im März, als er eines Abends in Tokio im Regen vor der Bar Piano steht. In dieser exklusiven Location ist das Klavier identisch mit der Theke. Gerade mal fünf Leute passen rein. Das Konzert ist für 20 Uhr verabredet. Der Inhaber öffnet, mustert den Deutschen, ahnt womöglich, dass dessen Pianopop weder dem von Billy Joel noch dem von Elton John ähnelt, begreift zudem, dass Augsberg kein Japanisch spricht und klappt die Tür wieder zu. Konzert? Pustekuchen. Verdammt einsam, so als Pianist ohne Publikum in Tokio.

Oder diese verrückte Einladung im September zu einem Festival im österreichischen Vorarlberg. Im Geburtshaus des Skisportlers Anton Innauer hat Jan Augsberg da vor seinem Konzert über das Thema „Müssen wir arbeiten, um glücklich zu sein?“ diskutiert. Vor einem elitären Zirkel aus Künstlern und Professoren, die 30 Euro für die Karte gezahlt haben. Wo er doch sonst ohne Gage auftritt. Er saß zwischen dem Olympiasieger, der Chefredakteurin der Tageszeitung „Standard“ und einem Psychologen. „Absurd, aber interessant“, wundert er sich noch im Nachhinein. „Ich war als Aussteiger eingeladen“, sagt er und lächelt fein.

Was ihn quält: die Ignoranz vieler Zuhörer

Dass sich die, die ihm zuhören, nicht notwendigerweise für Musik interessieren, ist die Krux der 100-Konzerte-Idee. „95 Prozent kommen erst mal, weil sie den Verrückten sehen wollen, der seinen Job geschmissen hat, um Klavier zu spielen.“ Und auch, wenn er vom verstimmten Klavier in der zugigen Bahnhofshalle bis zur lärmenden Stammtischrunde in der Eckkneipe alles erlebt hat – die Ignoranz quält ihn. „Musik ist fragil, sie zerfällt im Hintergrund.“ Er könne ja verstehen, wenn die Leute lieber feiern möchten, bloggt er Ende Oktober nach einem Konzert in Marburg. „Aber bitte, bitte, bitte, tut dies doch nach dem Auftritt.“

Jetzt, so kurz vor dem Ziel, ist er so glücklich, wie er es sich am Jahresanfang niemals hat vorstellen können. Nicht nur, weil er die Wette auf sich selber gewinnt, aus dem Nichts so einen Marathon zu stemmen, sondern weil er in der ganzen Welt Güte und Herzlichkeit erfahren hat. „Darauf beruht ja das ganze Konzept“, sagt er. Auf denen, die den Musiker bei sich auftreten lassen, ihn privat unterbringen, ihm ihre Stadt zeigen, ihn weitervermitteln – und auf denen, die sich seine Lieder schenken lassen. Sicher gab es Pleiten, Pannen, Krisen wie im Sommer, als wochenlang gar nichts voranging, absolut kein neuer Auftrittsort auffindbar war. Und doch war es ein gutes Jahr. Sicher ist Jan Augsberg ein wenig stolz, aber vor allem ist er dankbar.

Es wird weitergehen mit der Musik, irgendwie

Und? Taugt „100 Konzerte, 100 Städte, 356 Tage“ als Start für die Profikarriere?. „Überhaupt nicht“, winkt er ab. Ein Plattenvertrag ist bislang nicht herausgekommen. Stattdessen hat er eine überraschende Erkenntnis gewonnen. „Ich lebe nicht dafür, auf der Bühne zu stehen.“ Es bliebe immer diese eigenartige Distanz zum Publikum. Trotzdem wird es weitergehen mit der Musik. Sie gehört ja zu ihm wie das Klavier, das jetzt wieder drüben in der Altbauwohnung in der Viktoriastraße steht. Auch über ein Buch, in dem er das vergangene Jahr Revue passieren lässt, denkt er nach. Und auf die ihn umtreibenden Fragen „Was für Musik will ich spielen?“ und „Was kann ich mir zutrauen?“ hat er Antworten bekommen. Das ist mehr, als so mancher hochbezahlte Profi auf einer Welttournee erfährt.

Konzert: Ufa-Fabrik, Viktoriastraße 10–18, Tempelhof, 23. Dezember, 20 Uhr

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