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Human Interface. Zur sinnlichen Erfahrung seiner Live-Präsentationen hat sich Kevin B. Lees einige technische Gimmicks ausgedacht.

© Mike Wolff

Der Video-Essayist Kevin B. Lee: Medienkritik mit Transformers

Mit seinen klugen Videos hat Kevin B. Lee zum Boom der „Visuellen Filmkritik“ beigetragen. Momentan forscht der Harun-Farocki-Stipendiat in Berlin zu ISIS-Propagandavideos. Eine Begegnung.

Von Andreas Busche

Böse Zungen behaupten, dass Filmkritiker im Grunde gescheiterte Filmemacher seien. Dass es mehr Kritiker gibt, die gute Filme gedreht haben, als schlechte Filmemacher, die aus Frust Filmkritiker wurden, lässt sich kaum beweisen. Unbestritten ist, dass sich unter den Redakteuren der französischen Filmzeitschrift „Cahiers du Cinema“, nur ein Gegenbeispiel, sehr fähige Regisseure befanden. Jean Luc Godard, François Truffaut und Co. begründeten die Nouvelle Vague.

Der amerikanische Video-Essayist Kevin B. Lee würde sich selbst nie in diese Ahnenreihe stellen. Dennoch verweilt er derzeit in Berlin unter der Schirmherrschaft eines anderen einflussreichen Filmemachers, der die Grenzen von Kritik und Praxis aufhob. Lee ist seit Dezember Stipendiat der „Harun Farocki Residency“, eines neuen, vom Harun-Farocki-Institut und dem Goethe-Institut ins Leben gerufenen Künstlerprogramms, das dem intellektuellen Nachlass des 2014 verstorbenen Regisseurs und Medientheoretikers gewidmet ist.

Farocki gehörte 1966 zum ersten Jahrgang der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, von der er später wegen politischer Umtriebe flog. Nach seinem unfreiwilligen Abgang drehte mit „Nicht löschbares Feuer“ den ersten Agitprop-Film der 68er-Friedensbewegung. Er war Redakteur der Zeitschrift „Filmkritik“, Drehbuchautor für Christian Petzold und bis zu seinem Tod ein international angesehener Essayfilmer und Medienkünstler.

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Der Autodidakt Lee hatte bis 2009 nie etwas von Harun Farocki gehört, wie er beim Gespräch in seinen Arbeitsräumen in Schöneberg erzählt – obwohl sich beide in ähnlichen Feldern bewegten: Lee als Copyright-Anarchist im Internet, Farocki in etablierten Institutionen zwischen Universität und Museum. Eine Einladung der Filmwissenschaftler Michael Baute und Volker Pantenburg zu einem Kongress über den „Filmvermittelnden Film“ an der Freien Universität Berlin öffnete Lee die Augen. Zu seiner Verblüffung stellte er fest, dass es historische Vorläufer für das, was er allein vor seinem Computer zwölf Stunden am Tag machte, gab.

In den letzten zehn Jahren hat der 42-Jährige über hundert Video-Essays produziert, die maßgeblich zum Boom des Genres „Visuelle Filmkritik“ beitrugen. Die „New York Times“ bezeichnete Lee kürzlich sogar als „King of Video Essays“. Seine fünf bis zehn Minuten langen Filme beschäftigen sich mit dem Gesamtwerk eines Regisseurs oder auch nur mit einem einzigen Film: Lee analysiert Bildmontage, Kameraführung, filmische Motive oder die politische Haltung und illustriert seine Beobachtungen mit Filmszenen. Bekannt wurde er mit dem 25-minütigen Video-Essay „Transformers – The Prequel“, das den Zusammenhang zwischen US-Militär und Unterhaltungsindustrie, Fanvideos, Produktion und Marketing am Beispiel des Blockbusters „Transformers: Age of Extinction“ (2014) untersucht.

Die Form des Essays war bahnbrechend, eine Konzession an das Budget, aber auch eine Reflektion seiner Arbeitsweise. Zu sehen ist im Film nicht mehr als die Benutzeroberfläche von Lees Laptop. Ständig öffnen sich neue Fenster, Youtube-Videos und Chatrooms, in denen er mit anderen Usern kommuniziert. „Desktop Documentaries“ nennt Lee diese Arbeiten, weil er für seine Recherchen das World Wide Web nicht mehr verlassen muss. Der Bilderfundus im Internet ist so umfangreich, dass er reichlich Material für eine Analyse unseres Medienverhaltens bereitstellt. Warum braucht die Welt also noch mehr Bilderproduzenten, die die Kanäle verstopfen?

Seine Recherchen zu „Transformers“ wurden für Lee zu einem Schlüsselerlebnis. Fragen, die ihn schon in seinen Video-Essays in Bezug auf die Filmgeschichte beschäftigten, werden in „Transformers “ expliziter thematisiert. „Die Arbeit mit Bildern“, erklärt Lee, „besitzt das Potenzial, ein stärkeres Bewusstsein über unsere visuelle Kultur zu schaffen und zu verstehen, welche Rolle Bilder in unserem Alltag spielen.“

Die Website, für die er gearbeitet hat, hat seine Videos kürzlich aus dem Netz genommen

Gerade schneidet er eine Einführung für den aktuellen Film „Jackie“, die er auf einem Festival halten soll. Auf seinem Rechner sind ein Dutzend Fenster geöffnet, Videos mit anderen first wives, die sich – inspiriert von Jackie Kennedys berühmter „A Tour of the White House“ – staatstragend engagierten: Lady Bird Johnson, Nancy Reagan, Hillary Clinton. „Jackie Kennedy hat mit ihrer Führung durch das Weiße Haus die Inszenierung amerikanischer Politik beeinflusst. Alle Präsidentenfrauen nach ihr erfanden ihre eigene gesellschaftliche Rolle. Diese Videos stehen alle auf Youtube.“ Seine Präsentation wird mit einem Auftritt Melania Trumps bei der Vereidigung ihres Mannes enden, den Kommentatoren mit Jackie Kennedy verglichen. „Der Kreis schließt sich“, kommentiert Lee die Aufnahmen trocken.

Lees Erfahrungen während seiner Arbeit an „Transformers“ passen ins aktuelle politische Klima. Unterhaltungskonzerne, die mit Hilfe des Militärs städtische Räume abriegeln und die Berichterstattung über Dreharbeiten kontrollieren, sieht er als Zeichen, dass unveränderliche Grundrechte immer wieder neu verhandelt und verteidigt werden müssen. „Freiheit ist nicht etwas, was uns einfach widerfährt“, sagt Lee. „Sie ist ein ständiges Spiel von Kräften, die unsere Meinung formen, regulieren, kontrollieren und am Ende möglichst noch davon profitieren wollen. An den sozialen Medien lassen sich diese Mechanismen am besten beobachten.“

Lee hat diese Erfahrung gerade selbst gemacht. Die Website, für die er seit fast zehn Jahren arbeitet, hat seine Videos kürzlich aus dem Netz genommen. Die Essays seien zu komplex für den durchschnittlichen Internet-User. Heißt: nicht kommerziell genug. Lee beobachtet seit geraumer Zeit den Verfall der Video-Essay-Kultur. Viele Filme seien nur noch auf leichte Konsumierbarkeit hin produziert.

Zwar gibt es Filmemacher*innen, die er weiterhin schätzt (Tony Zhou natürlich, den Superstar unter den Video-Essayisten, Allison de Fren oder Mark Rappaport), aber ihn interessiert inzwischen eher eine Medien- und Bildkritik im Sinne Farockis, den er selbst nur einmal persönlich getroffen hat. In Berlin arbeitet er mit der Filmemacherin Chloé Galibert-Laîné an einem Projekt, das die Produktion und Zirkulation von ISIS-Propagandavideos in Medien und sozialen Netzwerken untersucht. Eine Präsentation der Recherchen geben Lee und Galibert-Laîné an diesem Montagabend an der FU Berlin. Das Verhältnis von Terrorismus und Massenmedien wird uns in den nächsten Jahren noch stärker beschäftigen. Kritische Analysen kamen bislang allerdings zu kurz.

„The Bottles Songs of Lost Children“, Hörsaal der FU, Grunewaldstraße 35, 6. Februar, 19.30 Uhr

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