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„Ich will nicht böse und grob und laut sein.“ Dagmar Manzel

© imago/Michael Handelmann

Die Schauspielerin Dagmar Manzel: Und plötzlich kannst du fliegen

Ihre Schüchternheit ist die Basis fürs Experimentieren und Extremwerden. Eine Begegnung mit der Schauspielerin und Sängerin Dagmar Manzel.

Ob sie eigentlich immer so leise spreche. Dagmar Manzel lacht. „Ja“, sagt sie, „tue ich.“ Ihre Mutter beschwere sich oft, „Mensch du redest so leise, ich versteh' dich gar nicht“. Dagmar Manzel kommt die Treppe der Komischen Oper herunter. Sie will ihre Mutter abholen, die wahrscheinlich schon am S-Bahnhof Friedrichstraße wartet. Die Mutter sei jedes Mal zu früh, sagt sie. Ihr nachblickend denkt man, dass dieses Arrangement zwischen ihr und der überpünktlichen Mutter bereits etwas über den Abstand erzählt, den die Künstlerin Dagmar Manzel zwischen sich und der Öffentlichkeit lässt.

Im Grunde ist es eine Armlänge. Eine Frage, ein einziger Schritt. Die Distanz aber ist unüberwindlich. Sie ist Teil des Selbstverständnisses. „Ich habe nie eine Rolle bekommen, weil ich über den roten Teppich gelaufen bin“, sagt Dagmar Manzel, „oder meine Liebesgeschichten durch die Presse gezogen habe.“ Sie mag den Teppich nicht. Wiederholt sei sie ihm ausgewichen, indem sie sich „durch den Bühneneingang und schwupps durch die Kantine“ zu Preisverleihungen schlich.

Kein bisschen kokett klingt das oder nach dem Klischee der übersensiblen Theaterdiva, das es ja auch gibt und das besagt, dass die Welt zu laut und vulgär für die zarten Nerven der genialen Künstlerin sei. Die 1958 in Ost-Berlin Geborene besteht darauf, zur Stadt und ihren Leuten zu gehören. Sie ist die „Berliner Pflanze“, „ein Theatertier“. Fast muss man aufpassen, wo sie eine sprachliche Lücke in der Unkompliziertheit lässt, für die Widersprüche: ihren Perfektionismus, den Ehrgeiz, die Schüchternheit.

Manzels Vielfalt reicht vom Theater über die Oper bis zu Kino und TV

Ausgerechnet danach will man fragen. Große Schauspieler, heißt es, wissen oft am meisten über die Scheu. Gerade sie, die Abend für Abend vor ihr Publikum treten und das aushalten, was dem schüchternen Menschen ein Graus ist, nämlich die Aufmerksamkeit aller, gerade sie sind manchmal Virtuosen der Schüchternheit. Hinter ihren Rollen können sie verschwinden und zugleich die eigene Wahrheit ans Licht bringen. Ein Balanceakt muss sie sein, diese Schüchternheit, eine unerhörte Anstrengung.

An der Komischen Oper singt und spielt Dagmar Manzel momentan im „Ball im Savoy“. Sie gab ihren wunderbaren Friedrich-Hollaender-Abend „Menschenskind“ und ist am Deutschen Theater mit Ulrich Matthes in „Gift“ zu sehen. Darüber hinaus kennen sie die Fernsehzuschauer inzwischen als fränkische „Tatort“-Kommissarin an der Seite von Fabian Hinrichs. Eine kluge, ungestüme, wach empfindende Frau ist diese Kommissarin, die nicht schießen kann. Sie kann es einfach nicht. In einer Szene musste sie deshalb zum Training. Sie legte an und brach mitten in der Bewegung ab, mit einer jener unwiderstehlichen Manzel-Gesten. „Vergesst es!“, rief sie, und in der Sekunde war klar: Das mit dem Nicht-Schießen-Können ist keine Marotte. Das mit dem Schießen reicht tief.

Mittlerweile ist die zweite „Tatort“Folge abgedreht. Herr Junius, der Fahrer, der Dagmar Manzel bereits beim ersten Dreh ins Hotel brachte, hat ihr zum Wiedersehen einen kleinen Kasten köstliches fränkisches Bier geschenkt. Sie war gerührt. „Aber Herr Junius, ich kann doch nicht mit dem Kasten im Arm durch die Hotellobby laufen.“ Sie hat das Bier dann in der Plastiktüte ins Hotel getragen.

Ein Gesicht, das alles sagen kann, was es will

Zugewandt und freundlich. Ihr Gesicht, in dem es ein paar Falten gibt, von denen keine einzige der Schönheit etwas anhaben kann, ist ungeschminkt. Ein Gesicht, das alles sagen kann, was es will. Der Blick aus grünen Augen würde zu jemandem passen, der zuhören will.

Die Schüchternheit also. Psychologen meinen, sie sei eine Disposition, eine Hemmung, im Kern ein Mittel zur Schamvermeidung. Die Schüchternheit schütze davor, lächerliche, vermeintlich selbstentlarvende Dinge zu tun. Dagmar Manzel nickt. „Ja“, erwidert sie, „einerseits. Andererseits ist die Schüchternheit zugleich eine der tiefsten menschlichen Qualitäten überhaupt.“ Persönlich wolle sie sich die Welt nicht ohne die Schüchternheit vorstellen. Was wäre das für eine Welt? „Eine grausame“, sagt Dagmar Manzel, nach einem Zitat von E. M. Cioran, „eine Welt, in der die Nachtigallen anfangen würden zu rülpsen“.

Die Kommissarin, die nicht schießen kann: Dagmar Manzel als "Tatort"-Kommissarin Paula Ringelhahn und Fabian Hinrichs als ihr Kollege bei der Vorstellung des Franken-"Tatorts" "Der Himmel ist ein Platz auf Erden".
Die Kommissarin, die nicht schießen kann: Dagmar Manzel als "Tatort"-Kommissarin Paula Ringelhahn und Fabian Hinrichs als ihr Kollege bei der Vorstellung des Franken-"Tatorts" "Der Himmel ist ein Platz auf Erden".

© picture alliance / dpa

Anmut. Unsicherheit. Stille. Diese drei Worte fallen ihr zur Schüchternheit ein. Dann auch das Schamgefühl und, ganz besonders, die Melancholie, zu deren Kindern sich Dagmar Manzel zählt. Sie habe wichtige Menschen verloren, sagt sie. Tränen steigen ihr in die Augen, ohne ins Gesicht zu fallen. „Die Toten sind irgendwie immer noch da.“

Aus dem Reichtum der Empfindungen kommt ihr Spiel, nicht aus übergroßem Darstellungsdrang. Die Begabung muss von Anfang an stark gewesen sein. Unabhängig davon, dass die Lehrer der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch – vor dem zweiten Studienjahr, in dem die Schülerin bei Thomas Langhoff bereits die Margarete im „Urfaust“ war – schon an der beruflichen Eignung zweifeln wollten. „So vollkommen verschüchtert und gehemmt bin ich gewesen.“

Den weiblichen Körper in weite Sacksachen gehüllt. Den Pony bis tief in die Stirn gekämmt, den Pullover hat sich das junge Mädchen über die Nase gezogen. Dagmar Manzel lächelt. Bloß die Augen waren noch zu sehen. Eine junge Schauspielerin in Rüstung. Vermutlich war es genau richtig so. Wer „alles“ in sich spürt, kann nicht gleich heraus damit. Viele Jahre später, erinnert sie sich, habe sie in einer Inszenierung unmittelbar vor dem Auftritt geglaubt, sie wisse nicht mehr, wie Laufen geht. Sie lacht. „Obwohl das kaum einer denken würde.“

Nein, niemand. Zu sehen ist von außen ja eine unglaublich sichere, eine hochmusikalische Künstlerin, die jedes helle oder dunkle Träumen, jede Farbe von Angst und Freude malen kann. Das Publikum verehrt die Manzel – mittlerweile auch als Sängerin mit großem Orchester, zu der sie sich im Laufe des vergangenen Jahrzehnts durch die Zusammenarbeit mit Barrie Kosky, dem Intendanten der Komischen Oper, entwickelt hat. Fast scheint es, ihr könnte kein Ton mehr verrutschen, keine Figur entgleiten. Ihre Pulloverrand-erprobten Augen verraten es. Der Gedanke gefällt ihr nicht.

Zum Arbeiten braucht sie Harmonie.

Sie meidet Worte wie Erfolg, spricht stattdessen über „das Wissen, das mit den Jahren kommt“ und darüber, „dass ich mich heute ein bisschen mehr lieb habe als früher“. Die Angst, das Publikum könnte sie ablehnen, oder sie könnte nicht gut genug sein, sei schwächer geworden. EgoKriege unter Kollegen hält sie nicht aus. „Ich müsste ja selber Krieg führen, und das will ich nicht. Das kostet mich viel Kraft und danach schäme ich mich so.“ Ein Kindersatz, genauso wahr: „Ich will nicht böse und grob und laut sein“, sagt Manzel. Sie bekenne sich zur Harmonie. „Dann mach’ ich alles“, sagt sie, „dann kann ich auch die Scham überwinden.“

Wie nach einer krankheitsbedingten Pause dieses Jahr, als sie wieder in „Gift“ auftreten sollte. Da waren die emotional schwierigen Situationen, die in dem Zwei-Personen-Stück auf sie warteten. Die Mengen an Text. „Komm, wir hören uns einfach zu“, habe Ulrich Matthes sie beruhigt. Gemeinsam haben sie sich vorbereitet, sind zur Bühne gegangen und haben sich in die Augen geschaut. „Und dann“, sagt sie, „haben wir uns eingelassen.“ Man könne nur spielen, „wenn man den Anderen voll wahrnimmt“.

Nach wenigen Augenblicken habe sie und habe wohl auch Matthes gespürt, dass es ein besonderer Abend werden würde. Frei und mühelos. „Ich hätte ewig so spielen können.“

Sie kann sich erfreuen an der Ausstrahlung von Kolleginnen

Die Schüchternheit liegt zugrunde. „Sie ist die Basis, das Fundament fürs Experimentieren und Extremwerden.“ Man könne die Scheu nicht manipulieren, nicht überrennen. Mitnehmen muss man sie. „Und plötzlich kannst du fliegen.“ Oder begreifen, wie schön der Andere ist. Als sie Edith Clever in der Rolle der Klytaimnestra sah, habe es ihr „den Atem verschlagen“, sagt Manzel. Sie könne solche Momente genießen und wissen, da sei etwas so bewegend und groß, dass sie es selber nicht mehr spielen müsse. Sie kann sich freuen an der Ausstrahlung, der Sinnlichkeit der Kollegen, sich begeistern.

Vor rund 15 Jahren hat sie die Texte der Dichterin Agota Kristof für sich entdeckt. Jene vollkommene, strenge und aus der Einsamkeit geborene Prosa, die sie zur Musik von Helmut Oehring auf die Bühne der Internationalen Maifestspiele 2016 in Wiesbaden bringen wird. Die Musik werde immer wichtiger, sagt Dagmar Manzel, die in diesem Sommer oft in einem Schweizer See gebadet hat. „Vor einem Jahr und sieben Monaten bin ich Großmutter geworden“, meint sie strahlend. Auf dem Theater würde sie gern Beckett spielen. Ach, es gebe noch so vieles. Sie sieht jung aus, als sie das sagt.

Dagmar Manzel ist in „Ball im Savoy“ wieder am 3. und 15. Oktober zu sehen (Komische Oper). „Gift“ läuft wieder am 20. und 29. Oktober (Deutsches Theater)

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