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Kultur: Die Stimmen der Überlebenden

Geschichten von Flüchtlingen und Familien dominieren das Leipziger Dokumentarfilm-Festival

Gegenüber vom Festivalzentrum im Leipziger Museum der bildenden Künste wird gerade an einem gigantischen Einkaufszentrum gewerkelt. Auch der Weg zu den Spielstätten selbst im obersten Stockwerk eines Multiplex-Kinos führt durch eine Ladenpassage an Modeboutiquen und Billigbüchern vorbei. Das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm ist umzingelt von Warenwelten und muss sich gegen ihre bunten Verlockungen behaupten.

Vielleicht auch deshalb setzt man bei dem traditionsreichen und – nach der IDFA in Amsterdam – zweitgrößten europäischen Dokumentarfilmfestival weniger auf die leisen Stimmen, sondern auf sichtbare Gesten und politische Wirksamkeit. Das begann gleich mit zwei kämpferischen Reden zur Eröffnung. Während Kulturstaatsminister Bernd Neumann noch einmal sehr deutlich den kulturellen Auftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens einforderte, beschwor Festivalleiter Claas Danielsen mit emphatischen Worten einen angstfreien Umgang mit Flüchtlingen und Migranten.

Ein Aufruf, der von einem klug gewählten Auftaktfilm unterstrichen wurde. Der Schweizer Regisseur Fernand Melgar drehte über viele Monate in einem Abschiebegefängnis am Genfer Flughafen, wo Männer aus Afrika oder dem Kosovo auf ihre Abschiebung warten und von ihren Bewachern fast freundschaftlich bei Laune gehalten werden. Man könnte das für ein ganz normales Wohnheim halten, wäre nicht der hohe Zaun drumherum und die drohende Deportationen zu den Orten, vor denen die Männer einst aus gutem Grund geflohen waren. Jetzt haben sie die Scheinwahl zwischen einer „freiwilligen“ Ausreise als freier Mann oder dem titelgebendem „Vol spécial“ als eng eingeschnürter Gefangener. Nicht alle überleben diese Art der Reise, wie man im Film aus einer Nachrichtensendung erfährt. Sonst bleibt der Film ganz bei der Beobachtung und entwirft ein verstörendes Bild institutioneller Gewalt und ihrer willigen Helfershelfer, die ihre Arbeit ganz ohne offene Brutalität verrichten.

Ähnlich erschreckend die Welten, in die die Kölner Regisseurin Carmen Losmann im einzigen deutschen Beitrag des Wettbewerb ihre Zuschauer entführt. In den Büroneubauten gibt es ebenfalls Kameraüberwachung, doch statt Zäunen sogenannte „Net’Nest-Bereiche“. Auch in den neuen Arbeitswelten wird Herrschaft statt durch direkten Druck durch strukturelle Vorgaben ausgeübt. „Work Hard – Play Hard“ untersucht einige aktuelle Projekte solcher Neuformatierung von Arbeitswelten von der Planung bis zur Umsetzung im Büro. Losmann findet unterschiedliche formale Mittel, um ihren Film zum Horrortrip werden zu lassen. Herausgekommen ist ein Innenblick in sonst eher abgeschottete Bereiche, der selbst die chinesischen Sweatshops eines anderen Wettbewerbsfilm („Made in China“, R: Jian Du) vergleichsweise menschlich aussehen lässt.

In seiner strengen Form war Losmanns Film ein Außenseiter im Internationalen Wettbewerb, wo bei aller Vielfalt der Themen doch eine Konformität narrativer Strategien auszumachen war, die vermutlich aus der globalen Annäherung der Filmmärkte und Produktionsweisen herrührt. So ließen sich manche erzählerischen Gleitmittel und poetischen Stimmungsmacher gut austauschen. Ein witziger Nebeneffekt der geballten atmosphärischem Bemühungen waren die in fast jedem Film wabernden Nebelschwaden.

In Tatiana Huezos „The Tiniest Place“ allerdings hatten die aus dem Bergwald wabernden Wolken ihre berechtigte Präsenz. In ihrem Film ist die Landschaft das eigentliches Sujet. Es ist El Salvador, ein Land, wo über ein Jahrzehnt lang blutiger Bürgerkrieg herrschte. In dem Bauerndorf Cinquera wütete die Armee bis zur Vernichtung. Erst spät kehrten die Bewohner zurück und bauten das Dorf wieder auf. Noch immer liegen Alpträume über dem scheinbaren Idyll.

Den prägnanten Worten der Überlebenden und den manchmal traumwandlerisch schönen und mit großer Souveränität montierten Bildern gelingt das Kunststück, neben dem Horror auch ganz sinnlich von der Möglichkeit zu erzählen, die traumatische Erfahrungen in Stärke und Lebensfreude zu verwandeln. Sicherlich auch deswegen erhielt der emotional stärkste Film des Wettbewerbs die Goldene Taube.

Ärgerlichstes Beispiel einer Filmkunst, die ganz dem Verwertungskalkül verfallen ist, war der neue Film von Victor Kossakovsky, der in „Los antipodas“ die eigentlich hübsche Idee verfolgt, an sechs Orten des Globus solche Gegenfüßler aufzusuchen. Es sind – bis auf Shanghai – ländlich Orte in Feuerland oder Sibirien, deren spröde Schönheit die aufwendig produzierte Großproduktion mit Angeberton und schmerzlich überscharfen HD-Panoramabildern ausstellt, untermalt von ebenso protzerischer Musik und diversen Trickspielchen.

Dabei lässt sich gut studieren, wie wenig der oft vergötterte Zugewinn an Schärfe mit filmischer Qualität zu tun hat, fast im Gegenteil. Das jedenfalls demonstrierte die in 16-mm-Ästhetik grobkörnig daherkommende kleine Familiengeschichte „Argentinian Lesson“ von Wojciech Starón, die neben einer liebenswerten, ganz spielfilmartigen Geschichte mit einem zauberhaften Farbschmelz betört, was mit der Silbernen Taube belohnt wurde. Den deutschen Wettbewerb gewann mit Katharina Pethke eine Absolventin der Kölner Hochschule für Medien – und mit „Louisa“ ein Film, der aus seinem Porträt einer jungen Schwerhörigen eine vielstimmige Meditation über Eigensinn und Sinnlichkeit entwirft.

Zuletzt sei noch auf den von der Stiftung Friedliche Revolution ausgelobten Preis verwiesen, der am Freitag in der Nikolaikirche an den iranischen Film „Fragments of a Revolution“ verliehen wurde, der den gescheiterten Aufstand von 2009 würdigt. Aus Schutzgründen – gerade erst ist der iranische Filmemacher Jafer Panahi zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden – blieben die Macher des Filmes anonym. Statuette und Preisgeld wurden auf einem leeren Stuhl abgelegt. Sie werden sicherlich ihr Ziel finden.

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