zum Hauptinhalt
Polnischer Shooting Star. Szczepan Twardoch, 36.

© Magda Kryjak/Rowohlt

"Drach" von Szczepan Twardoch: Lied von der geschundenen Erde

Wenn Klassenunterschiede ein Land spalten: Szczepan Twardochs gewaltige Schlesien-Saga „Drach“ beschwört die Anziehungskraft des Unglücks.

Jestem? Slazakiem – ich bin Schlesier“ sagt Szczepan Twardoch im slawischen Instrumentalis und dem Brustton der Überzeugung von sich. Das ist in Polen nach wie vor eine provokative Aussage. Der 36-jährige literarische Shootingstar und Markenbotschafter einer großen schwäbischen Autofirma pflegt seinen Ruf als konservativer Exzentriker.

Twardoch ist stolz darauf, wie seine Vorfahren in der oberschlesischen Kleinstadt Pilchowice zu wohnen, allerdings in einem modernen Architektenhaus. Der deutsche Name Pilchowitz klang im Dritten Reich nicht germanisch genug, sodass das Städtchen zwischen 1936 und 1945 in Bilchengrund umgetauft wurde. Das ist noch eines der harmlosesten deutsch-polnischen Wechselbäder, das Twardoch in seiner Jahrhundertsaga „Drach“ schildert.

Mit seinem kühnen und politisch inkorrekten Roman „Morphin“, der im deutsch besetzten Warschau des Herbstes 1939 spielt, erregte Szczepan Twardoch 2011 in Polen großes Aufsehen und erhielt Auszeichnungen wie den renommierten Polityka-Passport-Preis. Darin schilderte er, wie der morphinsüchtige und erotomanische Leutnant Konstanty Willemann unfreiwillig zum Widerstandskämpfer wird. Die geplante Verfilmung liegt seit dem Antritt der nationalkonservativen Regierung auf Eis.

Nun geht Twardoch mit „Drach“ ein neues Wagnis ein und nimmt Oberschlesien vom Mittelalter bis ins Jahr 2014 in den Blick. Zu diesem Zeitpunkt steckt der preisgekrönte Architekt Nikodem Gemander in einer tiefen Lebenskrise, da ihn Ehefrau und Freundin verlassen haben. Der Mittdreißiger Nikodem, ein Zweifler und Nihilist, ist der Urenkel von Josef Magnor, Jahrgang 1898, der eigentlichen Hauptfigur des weitverzweigten Familienpanoramas.

Bergbau und Weltkriege haben das oberschlesische Erdreich geschunden

1906 erlebt Josef, wie ein Schwein geschlachtet wird: „Da ist also, menschlich gesehen, das Dorf Deutsch Zernitz, darin stehen eine alte Holzkirche und dazu der weniger alte Pforrer Stawinoga (der ein begeisterter Deutscher ist, aber anständig, wie es im Dorf heißt), es gibt Gleiwitz mit dem Gericht, dem Landrat, der Ulanenkaserne und der Infanteriekaserne, es gibt das Bergwerk, wo man arbeitet, und es gibt Berlin, dort wohnt der Kaiser. Sie wissen zu viel, um zu verstehen. Das Schwein weiß weniger, deshalb versteht es besser, es versteht die Wahrheit des schlagenden Herzens und die Wahrheit des Beils.“

Inspiriert zu dieser flächigen Darstellung, die munter durch die Jahrhunderte springt, hat den Autor nach eigenen Angaben das Schicksal seiner Urgroßväter. Ob polnisch- oder deutschsprachig: Sie dienten in der preußischen und später deutschen Armee und wurden vor allem durch die Verheerungen des Ersten Weltkriegs in ihrem Weltbild erschüttert. Als Hüterin dieses bitteren Erfahrungsschatzes und als ungewöhnliche Erzählinstanz für seinen Roman wählt sich Szczepan Twardoch die schlesische Erde.

Sie verkörpert „Drach“, das von Bergbau und Weltkriegen geschundene oberschlesische Erdreich. Es spürt den leichten, vergänglichen Schritt der Tiere – besonders der Rehe – das ausbeuterische Graben nach Bodenschätzen. Die Erde wird zum Drachen, der die Jahrhunderte mitleidlos überblickt. Dadurch entsteht ein Eindruck von Gleichzeitigkeit, den die aneinandergereihten Jahreszahlen an den Kapiteln verstärken: Das Leben des Einzelnen ist für diese Erzählerin im Grunde bedeutungslos, auch wenn sie sich an Josefs Ähnlichkeit mit Clark Gable erfreut oder sich über Modeerscheinungen wie die modernen „Panzerchen“ (Autos) amüsiert.

Twardoch wollte keine „gemütliche“ Geschichte über das multinationale Schlesien erzählen

„Er ist voll von Schwärze“, heißt es über den Untertage-Tischler Josef Magnor, der sich weder als Pole noch als Deutscher fühlt: „Josef mag die großen Deutschen nicht, und er mag die großen Polen nicht.“ Im Juni 1918 begegnet der proletarische Kriegsheimkehrer auf der Gleiwitzer Kirmes der frühreifen Caroline Ebersbach. Die 14-Jährige aus besseren Kreisen ist da bereits von ihrem ruchlosen Zeichenlehrer entjungfert worden, wovon ihre Eltern nichts ahnen.

Zwischen Josef und Caroline nimmt eine schicksalshafte verbotene Liebe ihren Lauf, an deren Ende ein Mord steht. Doch auch die sterblichen Überreste dieses Liebespaares wird die Erde mitleidlos verschlingen und verstofflichen – ein fatalistischer Kreislauf, der das ganze Buch grundiert und ihm eine gewisse mantrahafte Redundanz verleiht: Nicht umsonst wird das Element Erde mit dem Phlegma assoziiert: „Ich spüre die Füße von Josef Magnor. Ich spüre die Füße und Hände des Sohnes von Josef Magnor, wie sie mich kratzen und reizen und wie sie heranwachsen, aufquellen, ich spüre die Füße des Enkels von Josef Magnor und des Urenkels von Josef Magnor, die Füße des Ururenkels von Josef Magnor in Lederschuhen, entpanzert, an der Cafétheke in Gleiwitz. Etwas verbindet sie, ein Faden, der durch mich hindurchläuft, in mir ist er, der ich bin.“

Bei einer Lesung in Leipzig beklagte Szczepan Twardoch, dass sich das offizielle Polen nur für den Zweiten Weltkrieg interessiere, während für Schlesien der Erste gravierender gewesen sei, wie die Gefallenendenkmäler in fast allen Dörfern bezeugten. Nach Kriegsende entstand die Polnische Militärorganisaton von Oberschlesien POW, und 1922 wurde das Land zwischen Deutschland, Polen und der Tschechischen Republik aufgeteilt. Gela Magnor durchlebt als Tochter des Aufständischen Czoik die ganze Zerrissenheit zwischen den nationalen Identitäten.

Die Übersetzung von Olaf Kuhl ist großartig kunstvoll

Twardoch wollte mit „Drach“ keine „gemütliche“ Geschichte über das multinationale Schlesien erzählen, sondern davon, wie gerade die Klassenunterschiede das Land spalteten: Den deutschsprachigen Oberschlesiern gehörten die Minen, in denen die slawischsprachigen malochten. Vor dem Hintergrund der tragischen Geschichte erscheint es Gelas Enkel Nikodem unpassend, heutzutage unglücklich zu sein. Mit dieser Figur des ebenso bedrückten wie selbstgefälligen Stararchitekten und PS-Liebhabers hat sich der Autor augenzwinkernd ein Alter Ego erschaffen: „Wenn all die Schmeichler ringsum wüssten, welches Vergnügen sie ihm bereiten könnten, indem sie ihn nach dem Motor des silbernen Discovery fragen, dann würden sie von nichts anderem mehr reden und ihn ganz ungezwungen von dem Vergnügen erzählen lassen, ein Potenzial von dreihundertfünfundsiebzig PS unter dem rechten Fuß zu haben.“

Auch für Nikodem Gemander geht es schlecht aus, unweit der psychiatrischen Anstalt, in der sein Urgroßvater Josef Magnor als schutzloser Patient das Inferno des Zweiten Weltkriegs erlebte - eine der intensivsten Passagen des Buches. Mit größter narrativer Raffinesse gelingt es Twardoch, in „Drach“, all diese Ereignisse zeitlich gleichzuschalten und gleich stark zu gewichten.

Olaf Kühl wiederum hat das Kunststück vollbracht, die oberschlesischen Passagen des Originals, mit denen der Autor polnische Leser gezielt verwirren und ihnen das Gefühl der Fremdheit vermitteln wollte, ins Niederschlesische zu übersetzen – diese Mundart ist dem Deutschen näher: „Na, neo is aus, du elender Woarm, neo bis verreckt un liegst inne Marotschke, oller Taumellolch". Dadurch wurden alle Sprachnuancen von „Drach“ bewahrt, dieser gewaltigen Moritat von der Anziehungskraft des Unglücks.

Szczepan Twardoch: Drach. Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl.Rowohlt Berlin 2016. 416 Seiten, 22,95 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false