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Kultur: Eierbecher zu Schnapsgläsern

Horst Michel entwarf den DDR-Alltag - gegen den Widerstand der SED. Eine Ausstellung in Berlin

Die DDR gilt im Rückblick nicht gerade als ein Hort der schönen Form. Plaste und Elaste aus Schkopau, Wartburg und Schlagersüßtafel: Den meisten gestalterischen Errungenschaften des real existierenden Sozialismus trauern allenfalls hart gesottene Ostalgiker hinter her. Wer verstehen will, warum der Sozialismus sein avantgardistisches Erbe von Rodschenko bis zum Bauhaus mit Füßen trat, kommt an Horst Michel nicht vorbei.

Der ostdeutsche Grafiker und Produktdesigner (1904–1989), an den die Sammlung Industrielle Gestaltung nun mit einer Retrospektive erinnert, war nicht nur eine zentrale Figur des DDR-Designs. Durch seine Biografie verlaufen auch idealtypisch die folgenschweren Brüche und Verwerfungen, die zur deutschen demokratischen Formgebung in all ihrer Zwiespältigkeit führten.

Michel begann 1924 mit Textilentwürfen und Typografie: Die mit feinem Pinselstrich gezogenen Krawattenmuster und rot karierten Herrentaschentücher sind kleine filigrane Meisterwerke. Auf Buchumschlägen des Gustav Kiepenheuer Verlages findet sich Michels Signatur „hm“ immer wieder: neben antiken Heldenhelmen auf den Geschichtsbüchern Leopold von Rankes, auf Ernst Jüngers „Gärten und Straßen“ oder Arnold Gehlens „Der Mensch“. Irritierend wirkt ein brauner Ornamentbogen von 1943 mit heraldischen Adlern, die deutliche Anklänge an die NS-Symbolik zeigen. Zwar erklärte Michel nach 1945, niemals Mitglied einer NS-Organisation gewesen zu sein. Doch sein Werk ist nicht frei von Einflüssen brauner Symbolik. Die Ausstellung beleuchtet erstmals auch diese Zeit, die vorhergehende Werkausstellungen unterschlagen hatten.

Als nach dem Krieg das Bauhaus zunächst in Weimar neu aufgebaut werden sollte, beauftragt man ausgerechnet den Bauhaus-fernen Michel mit Entwürfen für ein neues Logo. Es entstehen drei stilisierte Ziegelsteine in schwarz und rot. Hatte er bis dahin nur in der Fläche gewirkt, so gestaltet er nun erstmals räumliche Objekte. Eine der ersten Nachkriegsarbeiten ist das Re-Design der Schreibmaschine „Optima“. Der Vorgängertyp M8 stand in den Amtsstuben der Nazis. Michel rundet die Form zu einem weniger technokratischen Gehäuse ab.

Solche frühen Entwürfe befanden sich noch auf Augenhöhe mit dem internationalen Design. Warum es anders kam, illustriert die Geschichte des Misserfolgs des Mehrzweck-Geschirrs „Angelika“. Die Garnitur folgte Michels vom Weben abgeleiteten Anspruch an Materialgerechtheit und industrielle Technik. Die leicht konkaven Deckel der in Wagenfeld’scher Schlichtheit gehaltenen Behälter ließen das beim Brennen typische Einsinken zu und vereinfachten so die Produktion. Tassen dienten im Kühlschrank als Vorratsdosen, Kannen als Blumenvasen und Eierbecher als Schnapsgläser.

Eine Kommission schmetterte den Entwurf 1951 ab: Die Nachkriegszeit mit ihren Notlösungen sei vorbei, der Bauer wolle seinen Schnaps nicht aus Eierbechern trinken, und auch für den Arbeiter sei „das Beste gerade gut genug“. Michels Entwurf im Stil der klassischen Moderne sehe aus „wie Hitlers Kantinengeschirr“. Der Sozialismus verlange aber nach einem schönen Geschirr und einem „noch schöneren am Sonntag“. Dieses Verdikt folgte der unseligen Formalismusdebatte. Es markierte den Beginn eines neuen realsozialistischen Biedermeier – und das Ende für „Angelika“.

Michel ging den Weg der Anpassung. Welche ästhetischen Opfer er bringen musste, beweist das Schicksal einer Blumenvase von 1946. Die klassisch proportionierte weiße Form wurde mit bäuerlichen Blümchenornamenten verunstaltet. Der Folklorismus entsprach den stalinistischen Geschmacksvorgaben und wurde – ebenso wie Stechschritt und preußische Uniformen – als antiwestliche Rückbesinnung auf nationale Traditionen propagiert. Es wirkt wie der Beleg einer alltagsästhetischen Totalitarismusthese, dass Michel moderne Entwürfe in der Schublade lassen musste und stattdessen Ornamente aus brauner Zeit neu auflegen durfte: schlichte Balkenmuster, erdige Farbtöne und florales Gekräusel.

Im „Neuen Deutschland“ plädierte noch 1962 die Brecht-Sängerin Gisela May in einem Leserbrief: „Wir lieben den Sozialismus. Aber lasst uns auch graue Farben und weiße Vasen und asketische Stühle.“ Trotz solcher Proteste wirkten die Grundsätze des „Formalismusplenums“ von 1950 bis weit in die Sechzigerjahre hinein. Das DDR-Design erholte sich davon nie wieder völlig. Michel schuf sich mit den „Gelben Heften“ für Design zwar ein Forum, in dem er den Kitsch geißelte und eigene Entwürfe propagierte. Doch auch seine zusammenklappbaren Möbel für den neuen Plattenbau wurden nicht verwirklicht – man zog die Schrankwand vor.

Michels bekannteste Objekte sind rote und blaue Kerzenleuchter, deren transparenten Körpern die organische, spätpsychedelische Formensprache der Siebziger eingeschrieben ist. Die Ausstellung, darin auch der herausragende, beflochtene Stahlrohrstuhl für die Decks des FDGB-Ferienschiffs „Völkerfreundschaft“, bietet aber weit mehr als ein ostalgisches Wiedersehen. Sie erklärt, warum der sozialistische Alltag oft so aussah, als sei er aus der Zeit gefallen.

1904 wird Horst Michel in Neumark geboren.

1943 wird er Professor an den Vereinigten Staatsschulen in Berlin.

1945 gründet er die Fachklasse für

Industrielle Formgebung in Weimar.

1951-69 Direktor am Institut für Innengestaltung in Weimar

1961-70 Michel ist Vorsitzender der Sektion Formgestalter im Verband Bildender Künstler und gibt die „Gelben Hefte“ heraus.

1989 stirbt Horst Michel am 21. April

in Weimar.

AUSSTELLUNG

Sammlung Industrielle Gestaltung, Kulturbrauerei, Knaackstr. 97 (Prenzlauer Berg),

bis 5. September,

Mi – So 13 bis 20 Uhr.

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