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Kultur: Ein Porträt von Deutschlands ältestem Musikkritiker: "H.B." aus Dresden

Ein beliebter Kritiker, so ist gelegentlich zu hören, sei nicht unbedingt ein guter Kritiker. Auf Deutschlands vermutlich ältesten Musikkritiker, den 90jährigen Dresdner Hans Böhm trifft dieser Spruch nur bedingt zu.

Ein beliebter Kritiker, so ist gelegentlich zu hören, sei nicht unbedingt ein guter Kritiker. Auf Deutschlands vermutlich ältesten Musikkritiker, den 90jährigen Dresdner Hans Böhm trifft dieser Spruch nur bedingt zu. Er ist in der Tat ein (überwiegend) beliebter und obendrein auch ein guter Kritiker, der über 55 Jahre als intimer Kenner der reichen Dresdner Musikszene für die kulturfreundliche "Union" (heute "Dresdner Neueste Nachrichten") schrieb. Darüber hinaus war er im Laufe der Zeit für - sage und schreibe - 55 weitere Zeitungen in Ost und West aktiv, für Fachzeitschriften und Rundfunksender. Zudem war er Mitbegründer der Galeriekonzerte des Deutschlandradio wie der Dresdner Musikfestspiele.

Immer, wenn der Ruf der alten sächsischen Musikmetropole in der Nachkriegszeit und auch noch in den sechziger, siebziger Jahren gefährdet war, wenn Dresden gegenüber Ost-Berlin benachteiligt wurde, bezog Böhm mutig Stellung. Manchen ging er mit seiner Beharrlichkeit, zum Beispiel, was den Wiederaufbau der Semperoper betraf, sicherlich auch auf die Nerven. Und das war gut so.

Förmlich auf Händen getragen hat er dagegen stets den Dresdner Kreuzchor. Dem Kreuzkantor Rudolf Mauersberger, dessen geheimer "Eckermann" er war, brachte er eine fast kritikfreie Verehrung entgegen. Dagegen hatten der Mauersberger-Nachfolger Martin Flämig, kein prädestinierter Knabenchordirigent, und der weltmännische Orgelvirtuose der Kreuzkirche, der Chordirigent und Komponist Herbert Collum mitunter keinen leichten Stand. Aber welcher Kritiker hat denn keine Vorlieben?

Am 17. Juli 1909 in Struppen bei Pirna als Sohn eines Pfarrers geboren, studierte Böhm in Greifswald, Bonn und Leipzig Schulmusik. Doch vor allem die elf bitteren Jahre des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft in Rußland haben ihm Augen und Ohren weit geöffnet. Seine kritische Offenheit bewahrte er sich - in wohldosierter Form - auch dann noch, als es für spitze Federn im "real existierenden Sozialismus" immer schwieriger wurde, kritische Töne zu Papier zu bringen. Ein der SED angehörender Chefdirigent der Dresdner Philhharmonie, dem Böhms unverblümte Art der Berichterstattung nicht schmeckte, zerrte ihn sogar mal vor den Kadi. Nicht zuletzt solch angriffsfreudigem Einschreiten ist es zuzuschreiben, daß Hans Böhm in schwierigen DDR-Zeiten zu einem beliebten Kritiker avancierte.

Zu seinem 90. Geburtstag im Juli würdigte Dresden ihn mit der von Peter Zacher bearbeitete Broschüre "Hans Böhm - Kritisches und manches mehr. Lebenserinnerungen eines Dresdner Musikkritikers". Beim Lesen hält man bisweilen den Atem an und fragt sich, hat das alles tatsächlich dieser eine Mann erlebt und reflektiert? Allein die Überschriften der einzelnen Kapitel wirken sagenhaft: "Hundertzwanzigmal Fritz Busch, das Idol meiner Jugend", "Studieneindrücke: Karl Barth in Bonn und Karl Straube in Leipzig", "Fastnacht 1933: Vertreibung Fritz Buschs vom Dresdner Dirigentenpult", "Reichstheaterwoche 1934 mit Kreuzchorkonzert", "Kreuzchorreise nach Amerika: NS-Presseamt ein Schnippchen geschlagen", "Kunst im Kriegsgefangenenlager: Bach, Balladen, Befindlichkeiten". Und in einem der letzten Kapitel greift er auch noch im hohen Alter beherzt in die augenblickliche Politik an der Semperoper ein. Er kritisiert nachdrücklich, daß die Verantwortung für Oper und Staatskapelle nicht mehr in der Hand eines Dirigenten liegt: "Zum ersten Mal ist mit Sinopoli in einer über 130jährigen Geschichte der Fall eingetreten, daß der Chef der Kapelle nicht auch der Opernchef ist. Das ist einfach Unsinn. Ich habe Herrn Sinopoli einmal nach Opern gefragt, und da hat er geantwortet: ,Herr Böhm, bitte fragen Sie den Intendanten. Ich bin nicht zuständig dafür . . ."

Resigniert hat Hans Böhm bei allen Schwierigkeiten nie. Noch vor drei Jahren gab in den mit "H. B." unterzeichneten Kritiken - seinem weit über Dresden hinaus bekannten Markenzeichen - die eigene Musikbegeisterung den Ton an.

Eckart Schwinger

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